Das erinnert mich daran, dass ich im Keller fünf Schuhkartons mit Fotos aus den Neunzigerjahren habe. Damals setzten wir alles daran, möglichst unscharf zu fotografieren und viel Bokeh ins Bild zu kriegen, das fanden wir schick. Bokeh ist, vereinfacht gesagt, wenn man vor lauter Unschärfe nur noch Kreise sieht. Wir kauften uns zu diesem Zweck Kleinkameras russischer Bauart, komplett aus Thermoplast und Pappe. Zusätzlich sahen wir niemals durch den Sucher und schlenkerten mit der Kamera wild herum. Das Ergebnis war viel Farbschlamm in Dunkelbeige und Ocker, den wir im örtlichen Fachgeschäft entwickeln ließen. Niemals hätten wir mit dieser Technik solchen Ohrschmuck fotografieren können, das hätte bei uns ausgesehen wie eine betrunkene Eisenbahnbrücke bei Nacht. Heute rechnen die digitalen Kameras alles von selbst scharf, die fragen gar nicht mehr. Deswegen werden die Neunziger das letzte schön verschwommene Jahrzehnt der Menschheitsgeschichte sein.
Foto: Jason Evans