Auf den ­Spuren der Zeit

Im Südosten der Türkei entstand vor fast 12.000 ­Jahren ein rätselhafter Versammlungsort. Heute ist Göbekli Tepe eine der bedeutendsten Ausgrabungsstätten weltweit. Der deutsche Archäologe Jens Notroff hat dort 13 Jahre lang gearbeitet – und den Alltag in Zeichnungen festgehalten.

Die Ausgrabungsstätte liegt rund 15 Kilometer nord­östlich der türkischen Stadt Şanlıurfa. Bis zur syrischen Grenze ist es nicht weit. Der Name Göbekli Tepe ­bedeutet in etwa »bauchiger Hügel« und beschreibt die Landschaft.

Vor rund 12 000 Jahren endete die letzte Eiszeit, die Menschen zogen als Jäger und Sammler durch die Wälder und folgten dem Wild, von dem sie sich ernährten. Als Werkzeuge nutzten sie Steine, Stöcke und Knochen. Wie sie zu dieser Zeit mit diesen Mitteln einen Ort wie ­Göbekli Tepe erschufen, ist immer noch ein Rätsel. Tonnenschwere Steinpfeiler ragen dort aus der Erde. Die Bauwerke gehören zu den ältesten Monumenten der Menschheitsgeschichte. Entdeckt hat sie 1994 der deutsche Prähistoriker Klaus Schmidt im Südosten der Türkei, in der Nähe der Stadt Şanlıurfa. Die Ausgrabungen, die damals begannen und bis heute andauern, werden vom Deutschen Archäologischen Institut, kurz DAI, und dem Archäo­logischen Museum Şanlıurfa durchgeführt.

Zu den eindrucksvollsten Funden gehören rund fünf Meter hohe Steinpfeiler. Sie wurden in einem nahen Steinbruch geschlagen, dann mit Muskelkraft transportiert und kreisförmig aufgestellt. Ihre Größe erinnert an die Megalithen von Stonehenge, allerdings entstand Göbekli Tepe rund 8000 Jahre früher. Die Steinpfeiler sind mit Reliefs verziert, manche davon sehen aus wie Hände, die über einem Lendenschurz liegen. Fachleute vermuten deshalb, dass die Pfeiler menschliche Gestalten darstellen und dieser Ort für wichtige Zusammenkünfte geschaffen wurde.

Jens Notroff kam 2006 als Student zum ersten Mal nach Göbekli Tepe, um bei den Ausgrabungen zu helfen. Für ihn bedeutete das vor allem: Funde sortieren, säubern und dokumentieren. Dazu fertigte er sogenannte Fundzeichnungen an, die zum Handwerk eines ­Archäologen gehören. Beim Zeichnen können interessante Details, Verzierungen oder Bruchkanten besser hervorgehoben werden als durch ein Foto, das ist die Idee dahinter. Fundzeichnungen sind visuelle Notizen. Notroff hatte an der Universität Seminare dazu ­ absolviert, aber er konnte ohnehin schon kunstvoll zeichnen, es war ein Hobby von ihm.

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Andere Reliefs, die aus den Steinpfeilern herausge­arbeitet wurden, stellen Tiere dar, etwa diese Füchse. Offensichtlich sind es Rüden. Ihre Körperhaltung lässt sie wie im Sprung erscheinen. Jagen sie vielleicht? Und spielen sie damit auf die männlichen Jägergemeinschaften dieser Zeit an? Fragen wie diese hat sich der Archäologe Jens Notroff während seiner Zeit in Göbekli Tepe gestellt. 

Seine Bilder dienen vor allem der Dokumentation und sind Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit. Manchmal hat Notroff aber auch Alltagsszenen fest­gehalten, einfach aus Lust am Zeichnen. Hier ein Selbstporträt.

Das Bild zeigt die lebensgroße Skulptur eines Menschen, die in der Nähe von Göbekli Tepe bei Bauarbeiten entdeckt wurde und die als eine der ältesten naturalistischen Skulpturen dieser Größe gilt.

Die Funde stützen die These, dass in dieser Zeit und in dieser Gegend die ­ersten Menschen allmählich sesshaft wurden und das Zeitalter des Ackerbaus begann.

Die abgetragene Erde wird von den Archäologinnen und Archäologen durch ein Sieb ­gerieben, um kleinste Fundstücke zu ent­decken, Pfeilspitzen oder Tierknochen etwa. Um sich vor der Sonne zu schützen, sitzen sie im Schatten. In der Gegend ist es im ­Sommer so heiß, dass die Ausgrabungen jedes Jahr nur innerhalb von wenigen Wochen im Frühjahr und Herbst stattfinden. Die Winter sind oft zu kalt.

Die Funde werden in das sogenannte Grabungshaus in Şanlıurfa gefahren. Dort werden sie ge­reinigt, sortiert, vermessen, fotografiert und gezeichnet. Diese Arbeiten finden meistens am Nachmittag statt, wenn es draußen zu heiß ist, um zu arbeiten. 

In den folgenden zwölf Jahren kam Notroff immer wieder nach Göbekli Tepe und wurde vom DAI in Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt. Die Grabungsstätte wurde in dieser Zeit durch Medienberichte weltberühmt, seit 2018 gehört sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das Spannendste, sagt Notroff, sei für ihn der Grad an Organisation und Struktur, den die Menschen vor zwölf ­Jahr­tausenden hier an den Tag legten, um so ein gewaltiges Ge­meinschaftsprojekt zu realisieren. Die Menge an Tierknochen und ­Reibsteinen, die gefunden wurden, könnten auf große Mengen an Nahrung hindeuten, die wohl nötig gewesen sind, um die beteiligten Arbeiter zu versorgen. Warum sich die Menschen hier versammelten und die Bauten errichteten – das ist bis heute unklar.

Die Archäologinnen und Archäologen fanden auch Tausende Mahl- und Reibsteine (Bild oben) in der Erde, die sie sammelten und dokumentierten (unten). Die Steinzeitmenschen schroteten damit Wildgetreide, zum Beispiel Einkorn, wie mit einem Mörser. Daraus mischten sie vermutlich einen Brei oder buken Brot. Fermentierungsrückstände in Stein­gefäßen deuten zudem darauf hin, dass sie eine Art Bier brauten. 

Die Fahrt von der Ausgrabungsstätte in die Stadt im engen Minibus. Die ­Arbeiter aus den Dörfern sind teilweise in zweiter oder dritter ­Generation mit den Ausgrabungen beschäftigt und haben laut ­Notroff ein »sensationelles Archäologie­verständnis«.

Je häufiger in Medien über Göbekli Tepe berichtet wurde, desto mehr Touristen kamen. An manchen Tagen trafen jede Stunde bis zu acht Reisebusse ein, sagt Notroff.

Bevor die Ausgrabungen beginnen, werden neun mal neun Meter große Felder abgesteckt, in denen das ­Erdreich dann mit Schaufeln und Hacken Schicht um Schicht freigelegt wird. Diese Arbeit übernehmen ­Männer, die in den umliegenden Dörfern leben, gemeinsam mit den Archäologinnen und Archäologen.

Ein begehrtes Jagdwild war der Auerochse, der heute ausgestorben ist. Reliefs dieser imposanten Tiere ­finden sich ebenfalls auf den Steinpfeilern. Bei den Füchsen (siehe oben) ist der gesamte Körper in der Seiten­ansicht zu sehen – von dieser Perspektive weichen die Köpfe der Auerochsen ab: Sie sind in einer Art ­Draufsicht dargestellt, die womöglich den Blick des Jägers spiegeln soll, dem ein Auerochse mit gesenktem Kopf in wehrhafter Haltung gegenübersteht. Dies könne darauf zielen, die Gefährlichkeit dieser Tiere zu ­betonen, sagt Jens Notroff.

Wie die Auerochsen und die Füchse wurden auch die Tierreliefs unten aus den Steinpfeilern herausgearbeitet. Interessant sei auch hier die Perspektive, sagt Notroff. Die Steinzeitmenschen stellten die Schlange und den Skorpion offenbar so dar, wie sie diese Tiere erlebten: Sie schauten von oben darauf.

Alle Tierdarstellungen seien auffallend naturalistisch und zeugten von großer Beobachtungsgabe, sagt Jens Notroff – bis auf einige Kraniche (rechts). Die Beine der Vögel wirkten anatomisch eher wie die von Menschen. Deshalb vermuten Notroff und seine Kolleginnen und Kollegen, dass die Kraniche eigentlich Menschen darstellen, die ein Kranichkostüm tragen. In manchen Kulturen war der Kranich ein Symboltier, für Klugheit oder ein langes Leben etwa. In einigen Gegenden Japans und auch der Türkei ist es noch heute Brauch, die Balztänze der Kraniche nachzuahmen.