Als die Bombe platzt, kann Andreas Zechner nicht wissen, welchen Einfluss das auf ihn und seine Arbeit haben wird. Am 6. April 2017, alle Vorbereitungen laufen längst, teilen die Salzburger Festspiele mit, was sich viele bereits zuraunten: Der alte Jedermann wird abserviert. Das Regieduo Crouch/Mertes hat hingeschmissen, die Änderungswünsche an ihrer seit drei Sommern erfolgreich aufgeführten Inszenierung gingen ihnen zu weit. Michael Sturminger übernimmt. Michael wer? Ein österreichischer Regisseur, nur Eingeweihten bekannt, übernimmt in jenem April das Theaterstück, das in Österreich ein Nationalheiligtum ist und »zum genetischen Code der Festspiele gehört«, so sagt es der neue Intendant, Markus Hinterhäuser.
Erst einmal bedeutet die Nachricht nicht viel für Andreas Zechner, den bühnentechnischen Direktor der Festspiele, verantwortlich für die Bühnenbilder der mehr als hundert Opern und Theaterstücke, die jedes Jahr von Ende Juli bis Ende August aufgeführt werden. Zwar ist noch nicht bekannt, ob der neue Regisseur und seine Ausstatter dem Jedermann auch ein neues Bühnenbild verpassen wollen, er macht sich aber auch keine großen Sorgen, denn zum Jedermann gehören drei Gewissheiten: Er stirbt am Ende, die Vorstellungen sind grundsätzlich ausverkauft (35 000 Zuschauer wurden es allein in diesem Jahr) – und das Bühnenbild besteht im Wesentlichen nur aus einem großen Tisch, an dem die Tischgesellschaft Platz nimmt und das Hauspersonal Speisen und Getränke auffährt. Die Schlüsselszene des Stückes: Während der reiche, aber ungläubige Jedermann prasst und Party macht, erscheint ihm leibhaftig der Tod und verkündet ihm sein nahes Ende. Alles Übrige, die Schauer, die Erhabenheit, die Atmosphäre dieses altmodischen, christlichen Mysterienspiels, besorgt die Kulisse am Salzburger Domplatz – für manche ist sie der wahre Hauptdarsteller. Der Tisch war seit der Premiere 1920, seit bald hundert Jahren also, aus Holz, egal wer inszenierte. Mal war er höher, mal niedriger, mal bestand er aus zwei Teilen. Manchmal wurde er umgeschmissen oder flog die Treppe runter, so stand das dann in den Regieanweisungen, da splitterte mal was ab und musste für die nächste Vorstellung repariert werden, Gewohnheit.
Zechners Abteilung liegt im April auch noch gut im Plan: Seit Oktober tüfteln und schrauben und leimen seine rund hundert Mitarbeiter bereits an den Bühnenbildern für den kommenden Sommer. Neuinszenierungen wie Aida mit Anna Netrebko beanspruchen die meiste Zeit, aber die jeweiligen Bühnenbildner haben ihre Ideen mit Andreas Zechner da längst besprochen und ihre Modelle dagelassen, klein wie Puppenhäuser. Nun geht es um Fragen wie: Wenn wir das Sofa in Groß bauen und an diesen Platz stellen, wie im Modell vorgesehen, stimmen dann noch die Sichtlinien auf der Bühne? Oder wäre es für die Zuschauer ganz links unten nur von hinten sichtbar?
Dann kommt der 4. Mai. An diesem Tag erfährt Andreas Zechner von den Ausstattern des neuen Regisseurs, dass der Tisch stürzen und in tausend Stücke bersten soll. Das kann kein Holztisch. Immerhin hat schon ein Bildhauer Vorrecherchen gemacht, welche Materialien infrage kämen, aber einem Praxistest wurden sie noch nicht unterzogen. Nur noch 33 Tage Vorbereitungszeit statt einem Jahr, bis der Bau des Bühnenbildes beginnt, nur zweieinhalb Monate bis zur Premiere am 21. Juli, zu der der österreichische Bundespräsident kommen wird, Tradition in Salzburg. Der berühmteste Tisch der Theatergeschichte versetzt der Routine in den Werkstätten plötzlich ein Ende.
Jetzt drängen sich Fragen auf wie: Braucht man für 14 Vorstellungen 28 Tische? Einen für Sonne, einen für Regen, wenn die Aufführung kurzfristig vom Domplatz in das große Festspielhaus verlegt werden muss, wo die Bühne kleiner ist und der Bühnenboden nicht so stark gekippt werden kann wie draußen? Muss so ein Tisch anders konstruiert werden, damit er im entscheidenden Moment auch im geschlossenen Raum fällt und birst? Wird die technische Behörde der Stadt Salzburg diesen Tisch genehmigen? Vielleicht verletzen sich ja Schauspieler auf der Bühne oder Zuschauer, wenn Splitter ins Publikum fallen.
Andreas Zechner, 49, hat Maschinenbau studiert und Mechatroniker gelernt, er hat schon die Bühnentechnik an den Münchner Kammerspielen und dem Staatstheater Stuttgart geleitet, man kann sagen, er kennt sich aus. Und er ist Österreicher. Vielleicht erklärt das, warum man immer einen ironischen Unterton zu hören glaubt, wenn er erzählt: Also er habe das mit dem Tisch als Herausforderung empfunden, »ist doch eine schöne Idee, dass der Tisch zerbricht, und die Welt des Jedermann hebt sich aus den Angeln«. Als Zechner das sagt, ist der Tisch fertig. Zechner steht im hellen Malsaal, auf dem Dachboden, der sich über das gesamte Große Festspielhaus dehnt. Hier werden, wie in jedem Theater, Wände und Tapeten bemalt sowie Requisiten in Handarbeit gefertigt – in Salzburg auch der Tisch der Tische, wobei der aus drei Tischen besteht, die zusammengeschoben werden. Ein Ergebnis der Tüftelei.
»Na, wie lang wird der sein?«, fragt Zechner und schreitet den Tisch ab: »Sechs Meter lang, einen Meter breit und achtzig Zentimeter hoch, meine Hüfte ist das Maß, ab da beginnt nämlich meine Problemzone.« Die viel größeren Probleme, als der Tisch noch eine bloße Idee war: Zehn bis zwölf Mitarbeiter rühren im Frühjahr so lange verschiedene Materialien an, gießen sie in gepolsterte und mit Gummi ausgeschlagene Holzkisten, lassen sie aushärten, bis endlich feststeht: Vier Komponenten einer gipsähnlichen Masse eignen sich am besten – stabil einerseits, zerbrechlich andererseits. Die vier Holzbeine, die die Platte tragen, werden in die noch nicht ganz ausgehärtete Masse gesteckt. Gesamtgewicht: 150 Kilo. Zu den Proben mit der Tischgesellschaft muss noch nicht alles perfekt sein. Der Tisch, der bis dahin nur aus zwei Teilen besteht, sieht auf der Bühne mickrig aus, also wird ein Mittelteil konstruiert und gegossen. Bei einer anderen Probe setzt sich ein Schauspieler auf den Tisch, der Tisch bricht. Ansage an alle: Draufsetzen verboten, leichte Berührungen erlaubt. Die weißen Hocker, auf denen die Tischgesellschaft sitzt, müssen so weit vom Tisch stehen, dass niemand aus Versehen dranstößt.
Aber die anfängliche Unsicherheit, ob die Bühnenbildner mit der Produktion der Tische nachkommen, wenn alle drei bis vier Tage Vorstellung ist, schwindet allmählich. Zwei Männer schaffen einen Tisch am Tag, sagt Andreas Zechner. Immer steht ein Tisch in Reserve bereit. Kosten pro Tisch: Etwa 3000 Euro. Selbst die Gläser und Teller auf dem Tisch sind aus Zucker. Merkt niemand. Dafür sind sie leicht, auch sie bersten gut, ohne dass jemand sich an den Scherben verletzt. Für die Vorstellungen im Festspielhaus wird eine etwa zwanzig Zentimeter hohe Holzleiste zum Schutz der Zuschauer angebracht, auf dem Domplatz sitzt das Publikum weiter von der Bühne entfernt.
28. August 2017, die letzte Vorstellung des Jedermann. Am Nachmittag beginnt es zu regnen, die Aufführung wird ins Festspielhaus verlegt. Der Ersatztisch, auf dem in schwarzer Schrift klein »Haus« steht, wird mit dem Lastenaufzug vom Malsaal auf die Bühne gebracht. An die hinteren Tischbeine sind Holzklötzchen geklebt, er steht leicht schief, denn auf dieser Bühne lässt sich ja der Bühnenboden nicht so weit nach vorn kippen. Alles klappt. Auch heute. Der Tisch fällt und birst. Am Ende der Vorstellung großer Jubel und Bravorufe.
Am Tag der letzten Vorstellung geben die Salzburger Festspiele bekannt, dass diese Inszenierung auch im nächsten Sommer wieder gespielt wird. Der Tisch bricht also weiter mit der Tradition.
Fotos: Laurens Grigoleit, Matthias Horn, Rohrer/Wildbild