Der Sommer geht langsam zu Ende und eine große Melancholie legt sich über Deutschland, vor allem über Familien mit kleinen Kindern. Denn der Urlaub im Ausland hat einmal mehr gezeigt, dass es scheinbar vielerorts kinderfreundlicher zugeht als bei uns: Ob Italien, Thailand oder Israel – überall werden kleine Kinder von Fremden geherzt und geknuddelt und angestrahlt, in Frankreich ist es so selbstverständlich, kleine Kinder mit in Restaurants zu nehmen, dass diese schon mit vier Jahren perfekt mit Messer und Gabel essen und begeistert vom Blauschimmelkäse kosten. Und in Skandinavien ist ohnehin alles besser als bei uns, ein Paradies der Familienfreundlichkeit, wie man es hierzulande nur vage aus dem Ikea-Restaurant kennt.
Bei uns dagegen: Allgemeine Verzagtheit über das angeblich kinderfeindliche Deutschland, weil irgendein Wirt in einem Dorf auf einer Insel im Nordosten des Landes keine Kinder in seinem Restaurant haben möchte. Oder weil wieder irgendeine Wellness-Therme keine Kinder als Gäste erlaubt oder irgendeine hippe Kaffeerösterei im Prenzlauer Berg Eltern mit Kinderwagen den Zutritt verweigert. Diese Orte müssen keinerlei Marketingbudget aufwenden, denn die mediale Erregung über derlei Maßnahmen ist so groß, dass noch die kleinste Pommesbude sofort bundesweite Berühmtheit erlangte, würde sie nur ein »Hier bitte keine Kinder«-Schild auf die Theke stellen.
Ich habe selbst zwei Kinder und kann mich über die Existenz solcher Orte nicht aufregen. Ich kann es gut aushalten, dass meine Kinder nicht immer und überall willkommen sind, und vielleicht sollte es sogar noch mehr von solchen Orten geben. Für all die Menschen, die sich gern ungestört anschweigen wollen im Restaurant oder aus welchen Gründen auch immer die Unruhe, die mit der Anwesenheit von Kindern einhergeht, schlecht aushalten können. Was spricht dagegen, solchen Leuten eine Nische zu geben, in der sie sich tummeln und unter ihresgleichen bleiben können? Natürlich ist es immer unfair, einer Personengruppe aufgrund ihres Alters den Zutritt zu irgendeinem Ort zu verweigern und natürlich könnte man dem Insel-Wirt das Grundgesetz auf die Theke knallen und mit einer Anzeige wegen Diskriminierung drohen, wenn jetzt nicht presto eine Spezi und ein Kinderschnitzel mit Pommes auf den Tisch kommt, aber was soll das bringen?
Man muss Kinder nicht immer und überhall mit hinnehmen, selbst dann nicht, wenn es nicht explizit verboten ist. Ein Klavierkonzert ist kein Ort für ein zahnendes Kleinkind, ein Sternerestaurant muss keine Spielecke einrichten und der Ruheraum der öffentlichen Sauna ist nicht der richtige Platz für eine fröhliche Mau-Mau-Partie mit der ganzen Familie. Die Zeit, in der meine Kinder zu klein sind, um sich an Orten, die vor allem Erwachsenen Spaß machen, wie kleine Erwachsene zu benehmen, ist kurz. Es sind nur wenige Jahre, in denen ich deswegen manchmal auf etwas verzichten muss - nicht anderen Erwachsenen zuliebe, sondern vor allem meinen Kindern zuliebe, die nichts langweiliger und quälender finden, als in schicken Restaurants ruhig am Tisch zu sitzen oder stundenlang einem Streichquartett zu lauschen. Wenn mir der Sinn nach dieser Art von Erwachsenenvergnügen steht, dann leiste ich mir einen Babysitter und dann meide ich den kinderfreundlichen Italiener um die Ecke, weil es Abende gibt, an denen auch ich keine Lust auf Kinderlärm habe.
Mir als Mutter und noch viel weniger meinen Kindern geht irgendetwas verloren, wenn es kinderfreie Kreuzfahrten, Restaurants oder Beauty-Spas gibt, im Gegenteil. Wenn wir Menschen, die Kinder nicht mögen, ihre kinderfreien Nischen zugestehen, dann dürfen wir im Gegenzug erwarten, dass im übrigen öffentlichen Raum Kinder ganz selbstverständlich überall dazu gehören. Dann könnte ich augenrollenden Gästen in der Pizzeria sagen: »Sie stören sich am lebhaften Erzählstil meines Siebenjährigen? Bitte, gehen Sie doch einfach in das kinderfreie Restaurant zwei Straßen weiter, wenn es ihnen hier nicht passt.« Dann wird das eine elende Kinderabteil im ICE bitte abgeschafft und in ein »kinderfreies Abteil« umgewidmet, reserviert für Menschen, die Familien im Rest des Zuges nicht ertragen können. Dafür haben Businesstypen dann kein Recht mehr, genervt zu gucken, wenn man es wagt, mit einem Kleinkind erste Klasse zu reisen oder wenn Teenager im Großraumwagen nicht andächtig miteinander flüstern – er hätte ja rechtzeitig einen Platz im »kinderfreien Abteil« buchen können. Ich habe auch kein Problem damit, wenn Fluglinien gegen ordentlich Aufpreis kinderfreie Transatlantikflüge anbieten, wenn ich dafür im Gegenzug nie wieder genervtes Stöhnen hören muss, wenn ich mit einem Baby auf dem Arm ein Flugzeug betrete.
Ich glaube, die Kinderfreundlichkeit Deutschlands lässt sich nicht daran messen, ob es hier und da ein paar Verbotsschilder für Kinder gibt, sondern vielmehr an der Frage, warum eines der reichsten Länder der Welt es nicht schafft, genügend Lehrerinnen und Erzieher auszubilden, Schultoiletten zu sanieren, Hebammen anständig zu bezahlen, Alleinerziehenden Steuererleichterungen zu gewähren, Kinderarmut effektiv zu bekämpfen und die Arbeitswelt flexibler und familienfreundlicher zu gestalten. In diesen Punkten gibt es definitiv reichlich Luft nach oben. Und anstatt uns wegen irgendeines gestressten Gastronomen in Rage zu diskutieren und die Kinderfreundlichkeit in anderen Ländern zu verklären, in denen Eltern von bezahlter Elternzeit und kostenlosen Kitas nicht mal zu träumen wagen, sollten wir im Alltag und in der Öffentlichkeit lernen, einander besser auszuhalten.