Kann es sein, dass wir es mit dem Gewese um die Einschulung ganz schön übertreiben? Immer größere Feiern, immer mehr Aufwand, nur, weil ab einem willkürlichen Zeitpunkt die in der Landesverfassung geregelte Schulpflicht greift? Für den Handel, meldete der Tagesspiegel schon vor zwei Jahren, ist die Einschulung inzwischen wichtiger als Weihnachten. Weil Eltern so viel Geld dafür ausgeben: für die Schultüte im Bundesschnitt 60 Euro, für den Ranzen 130. Unabhängigen Schätzungen zufolge kostet die Einschulung im Schnitt 300 Euro. Und da ist noch nicht der Rotwein mit eingerechnet, für hinterher, wenn die Großeltern wieder weg sind.
Denn es ist nicht nur die wirtschaftliche Überhöhung, es ist vor allem das ganze Drum und Dran. Zum Ritual der Einschulung gehört in Deutschland inzwischen die vorherige Mahnung der Schulleitung, nicht mehr als zwei Erwachsene mit zur Feier zu bringen: Die meisten Aulen stammen noch aus einer Zeit, in der nicht sämtliche verfügbaren Verwandten Bestandteil der Festgemeinschaft waren. Und wer ein paar Tage vor dem Termin versucht, im Umkreis von zwei Kilometern um die beliebten Schulen einen Mittagstisch zu reservieren, kann gleich den pädagogischen Begriff der Frustrationstoleranz für sich mit Leben füllen.
Klar, dass die Einschulung immer wichtiger wird. Die traditionellen kirchlichen Übergangsfeste haben an Bedeutung verloren: Etwa die Hälfte aller Kinder wird gefirmt oder konfirmiert, aber alle Kinder werden schulpflichtig. Die Einschulung ist sowas wie der höchste staatsbürgerliche Festakt, noch vor Ausstellung der Fahrerlaubnis (auch wenn diese so wichtig für die Automobilindustrie ist) und dem Aufstellen der Recyclingtonne. »Jetzt beginnt der Ernst des Lebens«, sagt definitiv mindestens einer von den Verwandten, die zwar nicht mehr in die Aula passten, aber um den schönen Tisch im Vapiano. Und es stimmt, es ist ernst: Mit der Einschulung geben die Eltern einen Teil der Verantwortung, der Entscheidungsgewalt, der Zeithoheit übers Kind ab. Und zwar nicht freiwillig oder aus Sachzwängen, sondern per Gesetz.
Das kann man feiern, und natürlich auch groß und übertrieben, denn die Schulpflicht ist gut, und die Staatsform die beste, der ein Kind derzeit angehören kann. Und die Rührung, der Kloß im Hals, wenn das Kind unter dem sichtlich noch viel zu großen Ranzen nach vorne zu den anderen läuft und von dort mit dieser Mischung aus Angst und Zuversicht zu einem guckt und dann gleich wieder weg: Es macht einen demütig und klein und groß zugleich. Aber müssten wir nicht eigentlich trotzdem etwas ganz anderes feiern, wenn wir die Einschulung feiern?
Wenn die Kinder in die Schule kommen, werden sie endgültig Teil einer ungerechten Welt. Deutschland hat im OECD-Vergleich weiterhin schlecht verteilte Bildungschancen, noch immer gilt: Bildung wird vererbt, es gibt kaum Aufstiegschancen für Arme, statistisch entscheidet in erster Linie die soziale Herkunft darüber, wer welche Abschlüsse mit welchem Erfolg macht. Und die Eltern aus bürgerlichen Bildungsmilieus haben von Anfang an einen Anteil daran, dass sich wenig an diesem Zustand ändert. Durch die Entscheidung, das Kind eben doch nicht im eigenen Szene-Stadtteil einzuschulen, sondern möglichst ein paar Straßen weiter Richtung Stadtrand, »es ist ruhiger da, die Schule ist nicht so rummelig« (Code für: mehr Leute wie wir). Durch die beschämende, höchstens hinter vorgehaltener Hand geäußerte Erleichterung, wenn man beim Aufrufen der Mitschülerinnen und Mitschüler die meisten Vornamen versteht. Durch die Genugtuung, wenn es nicht zu viel Förderbedarf an der Schule gibt, durch das wohlwollende Interesse an Inklusion, solange sie aber besser nur im Nachbarbundesland vorgeschrieben ist.
Oder anders gesagt: Egal, was man sein Leben lang für progressive Ansichten über soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit hatte – wenn das eigene Kind eingeschult wird, ist das eigene Kind wichtiger als die Chancengleichheit und die Gerechtigkeit für alle. Unsere Eltern haben noch gesagt »unsere Kinder sollen es mal besser haben als wir«. Wir denken heute insgeheim: Unsere Kinder sollen es ein bisschen besser haben als alle anderen. Und das schreibe ich als Vater, der dieses Gefühl von innen kennt.
Müssten wir die Einschulung also nicht so betrachten, dass vielmehr für uns Eltern der »Ernst des Lebens« beginnt, und nicht für die Kinder? Der Ernst des Lebens im Sinne von: Ab jetzt zählt es, ab jetzt zählen all die guten Worte und Absichten, die wir immer schon hatten. Jetzt steht etwas auf dem Spiel. Und zwar nicht nur die Zukunft des eigenen Kindes, sondern die aller Kinder.
Das soll nicht heißen, arrogant auf dem Rücken des eigenen Kindes die Welt zu verbessern: Du gehst jetzt als Einzige in die Schule mit dem miesen Ruf, aus Solidarität. Aber müsste man nicht, wenn man selbst das Privileg von Bildung weitergeben kann, ab der Einschulung vielmehr zurückgeben an die Allgemeinheit? Sich nicht nur dafür engagieren, dass es einen Brezenverkauf an der Schule gibt und nachhaltig produzierte Schul-T-Shirts, sondern dafür, dass es insgesamt keine Schulen mehr gibt, die einen miesen Ruf haben? Die guten Lehrerinnen und Lehrer nicht mit Mikromanagement und überhöhten Ansprüchen aufreiben, sondern sie in Ruhe lassen, damit sie die Kapazitäten haben, die sie für mehr Chancengleichheit brauchen? Den Kindern nicht so wahnsinnig viel perfektionistischen Druck machen, nur, damit sie ihn irgendwann an ihre eigenen weitergeben? Über den Tellerrand schauen, das große Ganze sehen, nicht nur die Elternmappe des eigenen Kindes?
Das ist sehr schwierig und kostet sicher noch sehr viel mehr Energie, als man als Eltern noch übrig hat. Aber wenn wir den ersten Schultag nicht nur als den Termin betrachten, an dem die Kinder eingeschult werden, sondern auch als den, ab dem wir selbst erst so richtig in die Schule des Lebens kommen – dann haben wir wirklich was zu feiern.