RITA K.* ist vor zwei Jahren an Brustkrebs erkrankt und hat mehrere Operationen und Chemotherapien hinter sich.
»Wenn ich am Heulen war, habe ich niemanden gebraucht, der mir ein Taschentuch nach dem anderen gibt. Sondern jemanden, der einfach nur bei mir war und es ausgehalten hat, dass ich alles rausgelassen habe. Je mehr man versucht, das mit Trost zu ersticken, desto mehr staut es sich. Wenn jemand auf so eine erdrückende Weise tröstet, das habe ich gelernt, kann er nicht mit dem Schmerz des anderen umgehen und tröstet eher sich selbst. Viel hilfreicher als in Watte gepackt zu werden, fand ich es, wenn einer meiner Freunde auch mal etwas Unbequemes gesagt hat. Nach der letzten Chemotherapie, als meine Haare schon wieder teilweise nachgewachsen waren und ich begonnen hatte, die Perücke wegzulassen, hat ein Freund gesagt: ›Mein Gott, wie sieht das denn aus, setz bitte die Perücke wieder auf!‹ So was klingt erst mal hart, aber für mich war wichtig, dass er mich in dem Moment nicht als arme Krebskranke behandelt hat, die man schonen muss.«
Ein halbes Jahr nach der Hochzeit starb der Mann der niederländischen Schriftstellerin CONNIE PALMEN. Das Buch über den Geliebten und den Verlust ist gerade auf Deutsch erschienen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres.
»Alle versuchen einen zu trösten. Es ist für die Familie und die Freunde kaum auszuhalten, wie schlecht es einem geht. Aber in den ersten Monaten nach Hans’ Tod wollte ich nicht getröstet werden. Die Trauer war das Einzige, was ich noch hatte – sie war meine Verbindung zu ihm. Trotzdem fand ich es wichtig, nicht allein zu sein. Man kann nicht für sich sorgen, das müssen andere tun. Am besten hält man die Menschen aus, die sich auf kranke Tiere verstehen. Die sich nicht schämen, einen anzufassen, einen zu drücken, einen wie ein Kind zu behandeln. Die einfach tun und nichts fragen. Denn jemand, der trauert, hat keine Antwort auf die Fragen ›Wie geht es dir?‹ oder ›Hast du Hunger?‹ Ich habe versucht eine Gesprächspartnerin zu bleiben und meinen Humor nicht ganz zu verlieren. Man will ja auch ein bisschen man selbst sein, nicht nur das kranke Tier. Der Körper hat eine Art Thermostat, der anzeigt, wenn genug gelitten ist. Dann kann man plötzlich lachen, was essen, eine halbe Stunde lang vielleicht. Wenn in meinem Freundeskreis jetzt jemand seinen Mann oder seine Frau verliert, weiß ich, was ich tue: Ich mache einen großen Topf Suppe, packe ein paar Sachen ein, fahre hin und sage fast nichts. Ich empfange den Besuch, damit der Trauernde sitzen bleiben kann. Ich mache Kaffee, hole Wein, all die einfachen Dinge.«
MEIKE M.s* Mann ist vor einem Jahr an Krebs gestorben, da war ihre Tochter zwei Jahre alt.
»Ich habe gleich gewusst, dass er tot ist. So komisch eingesunken, wie er dalag. Der Notarzt und ich haben beide geheult, meine Tochter hat sich still an mich gekuschelt. In den ersten Stunden hat mich beruhigt, dass er zu Hause gestorben ist. Im Schlaf. Ohne Schmerzen. Mit mir und seiner Tochter in der Nähe. Nach den jahrelangen Chemos, dem Koma und den OPs fand ich das irgendwie gnädig. Nach einer Woche bin ich dann wieder arbeiten gegangen. Auch dieser Arbeitsalltag war tröstlich. Die Normalität fängt auf. Genauso wie das Einfühlungsvermögen der Kollegen. Einer hatte selbst als Kind seinen Vater verloren und wollte wissen: ›Findest du es eigentlich doof, dass jetzt die Sonne scheint?‹. Für mich gar keine banale Frage. Klar kann es einem ungerecht vorkommen, wenn überall die Blumen anfangen zu blühen, man selbst aber todtraurig ist. Ich fand das gute Wetter eher schön. Nach dem Winter, in dessen letzten kalten Märzwochen er gestorben ist, kam dann endlich, endlich der Frühling! Auch meine Trauzeugin fand die richtigen Worte: ›Meike, wir machen uns trotzdem noch ein schönes Leben!‹, beschloss sie. So ein Satz tut gut, einfach weil er zeigt, dass vielleicht doch nicht alles Schöne in meinem Leben schon hinter mir liegt.«
Angelika Kindts Tochter brach den Kontakt zu ihr vor sechs Jahren mit einer Mail ab: Die Mutter nehme ihr die Luft zum Atmen.
»Ich komme aus einer niedersächsischen Protestantenfamilie, da erzählt man seine Familienangelegenheiten nicht herum. In den ersten Jahren habe ich mich streng daran gehalten. Irgendwann haben meine Freunde dann aber gesagt: ›Du musst sie nicht schützen, sie hat dich auch nicht geschützt.‹ Seitdem rede ich. Und die Freunde, die sich das immer wieder anhören und weiter zu mir stehen, sind mein großer Trost.«
Die Kombination der Gene von ANNE-DAUPHINE und LOÏC JULLIAND hat bei zweien ihrer vier Kinder zu einem seltenen Defekt geführt: metachromatische Leukodystrophie. Die Krankheit legt sukzessive das Nervensystem lahm, eine Tochter, Thaïs, ist inzwischen gestorben. Die andere, Azylis, ist schwer behindert. Es ist ungewiss, wie lange sie leben kann.
»Am 31. Dezember hätten wir schreien können. Es war klar, dass Thaïs bald sterben würde. Die meisten unserer Bekannten sind in eine verschämte Stummheit verfallen – wenn sie sich überhaupt gemeldet haben. Sie haben uns stotternd und stammelnd so etwas gewünscht wie ›dass, wenn möglich, im nächsten Jahr alles etwas besser wird‹. Warum nicht einfach ein gutes und glückliches neues Jahr? Nicht nur das Beste, sondern das Allerbeste, laut und von ganzem Herzen! Das hätte uns wirklich geholfen. Denn das Schlimmste war uns sicher, das wussten wir.«
»Eine Freundin hat einmal pro Woche angerufen und mir immer das Gleiche auf die Mailbox gesprochen: ›Ich bin da, ich denke an dich, du musst dich gar nicht melden.‹ Das hat mir total gut getan, denn irgendwann hat man keine Lust mehr, die ganze Geschichte noch mal zu erzählen«
VALERIE B.s* Sohn hatte einen schweren Autounfall und lag mit mehreren Schädelbrüchen im Krankenhaus.
»Es gibt zwei, drei Freunde, die vom Unfall gehört, sich aber nicht gemeldet haben. Da ist für mich jetzt der Ofen aus. Alle anderen Freunde von uns haben irgendwie signalisiert, dass sie an uns denken. Wie sie das genau gemacht haben, welche Worte sie gewählt haben, war mir nicht so wichtig, als ich mit meinem Sohn auf der Intensivstation war. Klar, ich kenne auch den Gedanken, dass man jemandem, dessen Kind gerade ums Überleben kämpft, keine Floskeln erzählen will. Von außen kann man sich aber nur schwer vorstellen, wie groß schon die kleinsten Gesten wirken, wenn man traumatisiert ist. Mir haben so normale Sätze geholfen wie ›Das ist gerade so furchtbar, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.‹ Oder: ›Ich wünsche dir viel Kraft.‹ Eine Freundin hat einmal pro Woche angerufen und mir immer das Gleiche auf die Mailbox gesprochen: ›Ich bin da, ich denke an dich, du musst dich gar nicht melden.‹ Das hat mir total gut getan, denn irgendwann hat man keine Lust mehr, die ganze Geschichte noch mal zu erzählen. Hilfreich war auch, was die Krankenhaus-Pfarrerin sagte: ›Gehen Sie mal raus und schreien Sie! Hauen Sie mit der Faust gegen die Wand! Seien Sie sich bloß nicht zu schade dafür.‹ Später habe ich erfahren, wie wichtig es ist, Traumata körperlich abzureagieren.«
MARIA DAEBEL, 91, wurde in den vergangenen Jahren zwei Mal auf offener Straße ausgeraubt. Als sie wegen Herzproblemen im Krankenhaus lag, stahlen Einbrecher 3000 Euro, die sie als Sterbegeld zurückgelegt hatte.
Maria Daebel: Als ich aus dem Krankenhaus kam, hatte meine Freundin Irene schon dafür gesorgt, dass alles wieder aufgeräumt und sauber ist. Das hat mir sehr geholfen, obwohl mich der Einbruch gar nicht so schockiert hat.
Irene Roman (52): Als ich Maria davon erzählt habe, meinte sie nur: »Das ist doch scheißegal, es ist ja niemand körperlich zu Schaden gekommen.«
Maria Daebel: Beim ersten Raubüberfall war das anders, da hat mir dieses blöde Aas die Handtasche von der Schulter gerissen und mich so doll getreten, dass ich auf den Bordstein geknallt bin. Seit ich 18 bin, wohne ich in Berlin, 35 Jahre davon in Neukölln, aber so etwas war mir noch nie passiert. Trotzdem bin ich danach noch immer vor die Tür gegangen. Den ganzen Tag die weiße Wand anstarren – das kann ich nicht. Ich bin im Krieg erwachsen geworden. Als Berlin bombardiert wurde, war ich gerade schwanger. Meine Tochter ist mit neun Monaten gestorben, über Nacht, zack, weg. Ich weiß, was Verlust ist.
Irene Roman: Maria ist ein Mensch, von dem muss man sich eine Scheibe abschneiden. Sie denkt immer positiv. Sie ist diejenige, die uns Trost spendet.
ARND B., Schlossermeister in Düsseldorf, ging mit seinem Stahlbaubetrieb pleite. Der Konkurs der Firma hatte auch seine Privatinsolvenz zur Folge.
»Irgendwann konnte ich das Unvermeidliche nicht länger hinausschieben: Ich ging zum Amtsgericht und gab meinen Insolvenz-Antrag ab. Dieser Moment war ganz fürchterlich. Ich wäre ich am liebsten in einem Mauseloch verschwunden und nie wieder rausgekommen. Ich fühlte mich als Versager, hatte keine Perspektive mehr. In den Tagen danach ging es mir sehr schlecht, bis ich mich einer Therapeutin erinnerte, die ich zufällig kennengelernt hatte. Ich habe sie gefragt, ob ich mal für eine Stunde vorbeikommen könnte, zum Ausheulen. In der kurzen Zeit habe ich mich mit Ihrer Hilfe wieder aufgebaut. Sie hat mir geholfen zu erkennen, dass das, was mich ausmacht, nicht das ist, was ich habe oder im Beruf leiste, sondern das, was ich bin. Mein Menschsein an sich. Es waren nur ein paar Worte, aber die waren entscheidend für mich. Ich hatte mich verlaufen, mit ihrer Hilfe habe ich meinen Weg wiedergefunden.«
DANIELA T.s* Lebensgefährte wurde vor zwei Jahren von einem flüchtigen Bekannten krankenhausreif geschlagen.
»Von heute auf morgen war Stefan gehbehindert, konnte sich nicht selber waschen, nirgendwo alleine hinfahren. Ich musste rund um die Uhr für ihn da sein. Inzwischen ist es etwas besser, aber er ist oft müde und schnell überfordert. Die Medikamente machen ihn launisch und aggressiv. Ich habe kaum Unterstützung. Der Weiße Ring hat uns geholfen, als Stefan unter fadenscheinigen Gründen bei seiner Krankenkasse rausgeflogen ist. Und eine Freundin tröstet mich: ›Großartig, wie du das alles schaffst‹, sagt sie. ›Ein anderer wäre längst zusammengebrochen.‹ Es ist wichtig, dass mir das öfter gesagt wird. Denn ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«
TINA K. ist die Schwester von Jonny K., der im Oktober 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz totgeprügelt wurde. Tina engagiert sich seitdem mit dem Verein I am Jonny gegen Gewalt.
»Nach Jonnys Tod hat man uns geraten, nicht mit der Presse zu sprechen. Aber ich wollte, dass die Geschichte richtig erzählt wird. Und dass die Täter das Foto meines Bruders sehen. Sie sollten sehen, wem sie das angetan haben. Durch die Öffentlichkeit war die Anteilnahme an Jonnys Tod riesig. Leute haben gesagt: ›Ich wünsche dir viel Kraft für die schwere Zeit.‹ Da habe ich gedacht: Von welcher Zeit reden die? Es gibt kein Datum, an dem der Schmerz abläuft. Es gibt überhaupt nichts, das einem den Schmerz nehmen kann. Aber ich habe viel Trost durch mein Umfeld bekommen. Alle waren da. Meine Freunde haben eingekauft und gekocht und uns alle versorgt, meine Eltern, meine kleine Schwester und mich. Nach der Trauerfeier haben die Leute unsere Gedenkkarten mitgenommen, zu Hause aufgestellt, daneben eine Kerze, und mir dann Fotos davon geschickt. Oder sie sagen: ›Ich habe die Trauerkarte von Jonny immer dabei, weil ich weiß, er passt auf mich auf.‹ Das hört sich vielleicht ein bisschen freakig an, aber dadurch ist Jonny für mich immer noch da.«
ANDREA R.* aus München leidet seit einem Jahr an Brustkrebs.
»Helfen dir die Leute wirklich oder reden sie nur davon? Für mich ist es eine tolle Erfahrung und ein großer Trost, dass meine Freunde zu mir stehen und mich durch die Erkrankung begleiten. Es ist immer jemand da, den ich anrufen kann, der mir zuhört oder bei praktischen Dingen hilft: Meine Freunde haben zum Beispiel für mich eingekauft, mich zur Chemotherapie gefahren oder bei mir übernachtet, wenn ich Angst hatte, allein zu sein. Sehr wichtig finde ich auch, dass sie trotz der schwierigen Situation ihren Humor nicht verloren haben. Man möchte schließlich nicht in einen goldenen Käfig abgeschoben werden, nach dem Motto ›Ach Gott, die Arme! Jetzt haben wir alle mal Mitleid!‹ Die meisten dürften erst mal Hemmungen haben, im Krankenzimmer einen Witz zu machen oder eine lustige Geschichte zu erzählen. Warum eigentlich? Im Krankenhaus ist alles eh schon traurig genug, da war mir jede Abwechslung willkommen. Meine Freunde haben jedenfalls schnell erkannt, das sie mich in dieser Hinsicht nicht so vorsichtig zu behandeln brauchen, und wir haben viel zusammen gelacht. Die Krankheit hat dadurch etwas von ihrem Schrecken verloren.«
Die aus Venezuela stammende Deutsche MARCELA N. * verlor ihre Schwester Maria durch ein fürchterliches Verbrechen: Nach der Trennung wurde Maria von ihrem früheren Lebensgefährten ermordet.
»Meine Mutter, die nach der Tat nach Deutschland gekommen war, wollte unbedingt sehen, wie ihre Tochter gelebt hat. Aber wir durften leider nicht in die Wohnung – nur einmal für eine halbe Stunde, um Kleider für die Beerdigung meiner Schwester zu holen. Meine Mutter musste deshalb länger bleiben als geplant, das war aber finanziell nicht leicht für uns. Freunde haben deshalb eine Benefizparty organisiert. Kaum hatten sie den Aufruf auf Facebook gepostet, haben sich schon unheimlich viele Leute gemeldet. Manche haben Kuchen gespendet und Essen gekocht, Tanzgruppen und Bands sind aufgetreten, die Anteilnahme war überwältigend – mehr als 700 Leute sind gekommen. Als ich mal mit Maria über den Tod gesprochen habe, hat sie gesagt: Wenn ich sterbe, will ich keine Tränen sehen. Meine Freunde sollen mich mit einem Lächeln verabschieden. Es war für uns sehr wichtig, dass wir ihr diesen Wunsch erfüllen konnten. Ein großes Fest mit allen Freunden – Maria hätte es so gewollt. Auch meine Mama war ganz ergriffen. Nur das Ende war traurig. Als ein Video von Maria gezeigt wurde, ist Mama ohnmächtig geworden.«
Nach 14 Jahren Ehe war im Januar Schluss: CHRISTIANE M.s* Mann zog aus, sie blieb mit den beiden Töchtern zurück.
»Nach der Trennung hatte ich Selbstzweifel und Schuldgefühle. Lag es an mir? Bin ich ein schwieriger Mensch? Zwei Menschen aus dem Freundeskreis haben mir geholfen, mit diesen negativen Gefühlen fertigzuwerden. Meine beste Freundin Karin hat immer wieder ihre Loyalität gezeigt und betont, dass sie einfach nicht verstehen kann, dass ein erwachsener Mann denke, er müsse seine Frau unbedingt ändern. Und sie lieber brechen will, als gerade so zu lassen, wie der Rest der Welt sie mag. Udo hatte einen eher spirituellen Rat: ›Sieh die Trennung nicht als Niederlage. Sieh es so, dass eure Zeit abgelaufen ist.‹ Mit ihm habe ich nach der Trennung auch Exerzitien im Alltag gemacht, kleine religiöse Meditationsübungen, bei denen es letzten Endes um die Omnipräsenz Gottes geht. Den Gedanken, dass Gott immer bei mir ist, finde ich sehr hilfreich. Ich komme jetzt in ein Alter, wo es als Frau schwierig werden dürfte, einen neuen Partner zu finden, zumal mit zwei Töchtern im Teenager-Alter. Die Meditationsübungen geben mir das Gefühl, dass es mir auch gut gehen kann, wenn ich allein bin, weil ich wie jeder Christ ein Stück Göttlichkeit in mir habe.«
WALTER OBERST erfuhr vor drei Jahren, dass seine Frau demenzkrank ist.
»In der Nervenklinik erhielten wir damals die Gewissheit, dass meine Frau nicht nur vergesslich ist, sondern an Demenz leidet. Ich habe bald unsere Freunde und Bekannten informiert. ›Was können wir tun?‹, haben viele gefragt. ›Ich weiß es nicht‹, habe ich gesagt. Heute weiß ich, was ich hätte antworten sollen: ›Ruf öfter an und bleib mit Christina in Kontakt.‹ Denn so eine Alzheimer-Erkrankung hat zwei Realitäten: Jenseits des bereits jetzt harten Alltags ist da die Gewissheit, dass alles noch viel schlimmer wird. Immerhin erkennt meine Frau mich, unsere Töchter und den Enkel noch, doch sie kann keinen Termin mehr alleine wahrnehmen, sie findet nicht mehr nach Hause. Etliche Freunde haben den Kontakt abgebrochen, einige haben ihn aber intensiviert und holen meine Frau ab, um mit ihr spazieren zu gehen oder sich mit ihr in ein Café zu setzen. Das ist eine kleine Entlastung für mich, weil ich dann kurz durchatmen und wieder Kraft schöpfen kann. Vor allem tröstet es mich aber dann jedes Mal, meine Frau bei solchen Unternehmungen ganz fröhlich zu sehen. Manchmal lacht sie dann wieder so gelöst wie früher.«
BETTINA W. hat ihr erstes Kind, Leo, im achten Monat tot geboren. Ihre anderen Kinder sind jetzt vier und sechs Jahre alt.
»Als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam, lagen viele Briefe da. Einer kam von einer entfernten Verwandten. Sie schrieb mir von ihrem Schicksal: Sie hatte auch mal ein Kind tot geboren. Das hat mich komischerweise überhaupt nicht getröstet. Obwohl man doch denkt, dass Dinge sich nicht mehr so grausam anfühlen, wenn man weiß, dass andere so etwas schon erlebt und überlebt haben. Aber mein Kummer war für mich einzigartig. Und es kam mir in dem Moment nicht so vor, als hätte sie den Brief wirklich an mich gerichtet. Was mir sehr viel gegeben hat: Mein Mann und unsere Verwandten, die Leo einen Platz in unserer Familie gegeben haben. Und all die Arbeitskollegen, die geschrieben haben. Ein paar Worte, egal wie ungelenk. Sie hätten das nicht tun müssen. Man weiß ja, wie schwer es einem fällt, in einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden. Als ich wieder ins Büro ging, war ich froh über jeden, der mich auf mein Kind und meine Geschichte angesprochen hat. Denn ich glaube, die meisten Trauernden haben das Bedürfnis zu reden, werden aber aus Scheu oft nichts gefragt.«
* Name von der Redaktion geändert