Der erste Alarm riss ihn an einem Samstag aus dem Feierabend, Alarmcode S0354, kurz vor der Tagesschau. Also auf, Schutzkleidung, Stiefel, Gaswarngerät, und los. Matthias Höne trat in die Schwüle des Abends, Sommer 2012. Alarmcode S0354.
Das war Werk 6. Einer der Abertausend Sonderbauten im Land, die der Laie leicht für einen Bunker hält: in den Boden versenkter Beton, der steile Stufen umfasst, tief unten eine stählerne Tür. Höne schloss auf und prüfte sein Gaswarngerät. Schien sauber, der Schacht. Er stieg in die Tiefe.
Höne sagt, er habe damals einen Defekt erwartet, der allein seine Anlage betraf: KA Cappeln, im Hinterland Cloppenburgs, wo Felder erst hinter dem Horizont enden. Einer Sache auf die Spur zu kommen, die auch auf Hawaii Alarm auslöste, in Alaska, Kalifornien, Australien, das habe er nicht erwartet, sagt Höne.
Höne, 51, arbeitet beim Abwasser, KA steht für Kläranlage. Ja, der Scheißjob, diesen Scherz hört er schon seit zwanzig Jahren, zusammen mit dem hier: Höne, hör mal, lebt deine Kläranlage noch? Hab dir heute nämlich was geschickt, Rohrpost, höhö.
Höne lacht dann höflich mit, obwohl es ihn wurmt. Er empfindet seine Arbeit nicht als schlimm. Sie ist hart, das schon. Sie ist dreckig, das auch. Auf seiner Anlage schwemmt das Abwasser die Ausscheidungen von knapp 8000 Menschen an. Mehr wollen die meisten nicht wissen. Ist ihm recht, weil es ihm eine Freiheit verschafft, die er liebt: Auf seiner Anlage ist Höne der Herr. Er sagt, er arbeite wie auf eigener Scholle.
Damals, im Juli 2012, glaubte Höne seine Scholle in Gefahr. Am Grund des Schachts sah er zwei mannshohe Pumpen auf ihren Sockeln sitzen. Er war tiefer im Erdreich, als die Häuser ringsum in die Höhe ragen. Ein künstlicher Tiefpunkt. Ist ein Trick der Ingenieure. Da Wasser abwärts fließt, legen sie in flachem Land unterirdische Sammelstellen an, zu denen Abwasser von allein strömt. Erst dort ist die Energie von Pumpen nötig, um es zum Klärwerk zu schaffen. Doch die Pumpen standen still.
Höne legte seine Hand an die zweite Pumpe. Ihr Gehäuse war warm. Höne fragte sich, was eine Pumpe heißlaufen ließ, die auf Schwarzwasser ausgelegt war. So nennen sie, was wir ins Klo spülen. Er schraubte die Wartungsklappe auf, ein Schwall ergoss sich zu Boden, ein zweiter, dann war die Pumpe leer gelaufen. Er griff ins Innere und bekam etwas zu fassen. Er zog. Er zog fester. Er zog und zog; es war, als holte er einen Anker ein, am Ende hielt er ein Wirrwarr in der Hand wie das Gewölle eines gewaltigen Raubvogels. Es war Samstagabend. Höne schmiss das Trumm in eine Tonne, ohne genauer hinzusehen, Verstopfungen kamen ja vor. Er warf die Pumpen wieder an und ging nach Hause.
Am Sonntagmittag – Alarm. Alarmcode S0353. Wieder Werk 6. Allerdings hatte diesmal die erste Pumpe Alarm ausgelöst. Höne zog einen Zopf hervor, stark wie eine Stahltrosse.
Jetzt wollte er es wissen. Er zupfte den Zopf entzwei, bis er sah, was seine stärksten Pumpen stoppte. Er kannte es. Gab’s auf dem Klo, bei Bekannten. Feuchte Toilettentücher.
Wer in der Drogerie die Auswahl an feuchten Hygienetüchern sieht – mit Aloe vera getränkt, mit Kamille, Mandelmilch oder dem Duft von Waldbeeren –, ahnt nicht, wie jung dieses Produkt ist: Trockenes Klopapier ist seit gut 600 Jahren in Gebrauch – feuchtes erst seit vierzig Jahren. Gedacht war es als Luxusartikel. Genutzt wurde es zur Babypflege. Gekauft wurde es anfangs kaum.
Aber dann begann ein Boom, der die Industrie bis heute begeistert. 1990 war der Markt kaum messbar. 2002 kauften allein Amerikaner für fast zwei Milliarden Dollar Feuchttücher. 2013 waren es sechs Milliarden Dollar in Nordamerika und in Deutschland hundert Millionen Euro. Und der Absatz ist seither weiter gewachsen. In den USA sechs Prozent Wachstum im Jahr. In Deutschland acht Prozent. In Großbritannien 15.
Höne sagt, er habe gestaunt damals. So viele Feuchttücher. Vielleicht Zufall. Allerdings einer, über den sich wunderbar in den Nachbarschaften erzählen ließ.
Nachbarschaften sind eine Eigenart der Klärwerker. Abwasser ist in Deutschland eine Aufgabe der Gemeinden, was Klärwerker zu einer versprengten Zunft macht: Eine Karte aller Kläranlagen sieht aus wie ein Flickenteppich – knapp 10 000 Anlagen, kleinteilig nach Kommunen organisiert. Auf Uneingeweihte wirken die Anlagen wie geheime Orte. Sie liegen abseits, am Ende aller Straßen, von Wäldchen verborgen, hinter hohen Hecken. So arbeiten die meisten Klärwerker auch – im Stillen, der Sicht entzogen, auf sich allein gestellt. Deshalb schließen sich angrenzende Anlagen zu Nachbarschaften zusammen: lose Zusammenkünfte, um Wissen zu teilen.
Höne, der sich die Arbeit mit einem Kollegen teilt, gehört der Nachbarschaft 17 Nord an. Aber ehe er von seinen Zöpfen erzählen konnte, schreckte ihn die nächste Störung auf. Werk 6, erste Pumpe. Wenige Tage später erneut, Werk 6, zweite Pumpe. Beide Male steckte ein Strick aus Tüchern in den Maschinen.
Höne sagt, Störungen kannte er vorher nicht. Er kannte nur: kaputt. Also ging er davon aus, dass das Problem am Gerät lag, auch wenn es ihm seltsam vorkam: Werk 6 ist dasselbe Baujahr wie er, 1964. Der erste Satz Pumpen lief problemlos bis 2005. Dann bauten sie neue ein. Und die sollten nach nur sieben Jahren kaputt sein? Am Ende des Sommers aber traten die Alarme aus Werk 6 wie im Takt auf, Woche für Woche.
Höne und sein Kollege setzten einen Seilzug an, hievten die Pumpen, jede zwei Zentner schwer, in die Höhe und zerlegten sie. Als Grund ihrer Überstunden gaben sie an: Verdacht auf Laufrad-Verschleiß. Aber das Laufrad lief. Wie eine Eins.
Höne sagt, da habe er dann nicht mehr an Zufall gedacht.
Der Amerikaner knüllt, bevor er wischt.
Für Papierchemiker ist feuchtes Toilettenpapier eine besondere Gattung: Viele Feuchttücher sind kein Papier, sondern Vlies. Jedes Vlies besteht aus winzigen Fasern. Sehen unter dem Mikroskop aus wie Mikadostäbchen, kreuz und quer. Wenn man Wasser darüber gießt, lösen sich die Fasern voneinander: Die Struktur schwindet. Ist bei gewöhnlichem Toilettenpapier genauso: Trocken ist es fest, nass zersetzt es sich.
Der Trick der Feuchttücher ist, die Stellen, an denen die Fasern verbunden sind, wasserfest zu machen. Fachleute sagen gern: Nassfestausrüstung. Macht man mit Chemikalien wie Melaminformaldehydharzen. Sagen Fachleute nicht so gern. Die Stoffe sind ein Grund, warum Verbraucherzeitschriften wie Öko-Test von feuchtem Toilettenpapier abraten: Formaldehyd ist krebsverdächtig und kann Allergien auslösen.
Der Trick der Nassfestigkeit erlaubt es, ein Tuch mit Essenzen zu tränken, die nach Mandelmilch und Kamille duften – und es trotzdem auf dem Klo taugt: Obwohl es feucht ist, bleibt es stabil und reißfest. In Deutschland ist das wichtig, weil der Deutsche großen Wert auf die Durchstoßfestigkeit seines Klopapiers legt. Deswegen kauft er gern mehrlagiges Papier und legt es mehrmals zusammen. Der Amerikaner dagegen knüllt, bevor er wischt.
Am Ende ist die Technik egal: Was benutzt wurde, wandert in die Schüssel. Und wird runtergespült – auch diese Tücher, die noch im Nassen reißfest bleiben.
Höne versuchte, den Fall wie ein Detektiv aufzurollen: Wenn seine Pumpen wegen der Tücher ausfielen – wer warf die in die Toilette? Er schweißte ein Suchgerät: ein Stück Rohr, kleiner als seine Kanäle, darin eine Staustufe, um Feuchttücher zu fangen. Solche Teile setzte Höne in die Kanalisation, wochenlang. Er hoffte, der Spur der Tücher stromaufwärts folgen zu können, bis zum Ursprung. Keine Chance. Waren zu viele.
Höne sagt, da habe er Alarm geschlagen.
Werk 6 fraß seit Monaten wertvolle Zeit, die dann auf der Anlage fehlte: Auch die Bakterien im Belebungsbecken mussten gepflegt, die Klärbecken gereinigt werden – Höne schob so viele Überstunden, dass die Zentrale unruhig wurde. Aber Werk 6 allein zu lassen, wagte Höne nicht. Dort laufen Kanäle aus sechs vorgelagerten Werken zusammen. Einmal, Jahre her, legte ein Defekt die Pumpen eines Werks in der Nähe eines Schlachthofs lahm. Abwasser stieg die Abflüsse empor, rot vor Blut – die Menschen dachten, die biblischen Plagen brächen über Cappeln herein. Nicht auszumalen, was geschähe, wenn Feuchttücher Werk 6 ausschalteten.
2013 erfuhr Höne: Seine Anlage war nicht allein. In der kleinstaatlichen Welt der Kläranlagen dauerte es, bis die Kunde von Klärwerker zu Klärwerker ging, aber dann war klar: Am Bodensee, in Unterfranken, im Pfälzerwald zogen Klärwerker Zöpfe aus ihren Anlagen, zusammengezwirbelt aus Feuchttüchern. Manche klaubten Vlies kiloweise aus Wirbelwaschpressen. Andere fanden ihre feinen Rechen, die Feststoffe aus dem Abwasser harken, wie mit Vorhängen verhängt.
Im August 2013 zeigten Aufnahmen aus London, wie ein Trupp Arbeiter auf eine Störung in den Kanälen unter Kingston stößt – gespenstische Bilder einer Tropfsteinhöhle aus Feuchttüchern und Fett. Als der Pfropfen abgetragen war, ging die Nachricht um die Welt: Der Fettberg wog 15 Tonnen.
Nun traten mehr und mehr Klärwerker an die Öffentlichkeit. Auch in Honolulu auf Hawaii lösten Feuchttücher Alarm aus. In Kanada, der Schweiz, Kalifornien. In der Oberpfalz, im Jerichower Land, der Lüneburger Heide. In Bayreuth und Sydney. Im Isartal und in New York. Verbraucherverbände und Umweltbehörden empfahlen, feuchtes Toilettenpapier nicht in Toiletten zu spülen.
In der Nähe von Pirmasens, in Nachbarschaft 612, erforschte ein Abwassermeister, wie die Tücher auf Pumpen wirkten: In Kanal- und Schneidradpumpen fraß sich Vlies fest, bis sie blockierten. In Freistrompumpen sog der Saugstutzen die Tücher ein und verdrillte sie, bis sie betonharte Wulste waren. Was tun? Der Rat des Abwassermeisters: Aufrüstung.
Betroffene Klärwerker attackierten das Phänomen, wo sie konnten. Pumpen wurden umprogrammiert, aufgeständert, hochgerüstet. Pumpensümpfe luftgespült. Schneidblätter armiert. Rührwerke. Doppelwellenzerkleinerer. In ihrer verborgenen Welt traten die Klärwerker zum Kampf an, und sie führten ihn auf ihre Art – als Materialschlacht. Aber wer genau war der Feind?
Die Industrie erklärte sich für unschuldig. In den USA verteidigten große Hersteller wie Kimberly-Clark oder Procter & Gamble ihr Produkt verbissen: Ihr feuchtes Toilettenpapier sei durchaus spülbar und überdies in der Lage, sich zu zersetzen.
Klärwerker lachen, wenn sie das Wort hören. Spülbar ist vieles. Gebisse. Boxershorts. Golfbälle. Büstenhalter. Tampons, Kondome, Strumpfhosen, Putzlappen, Goldfische, Handschuhe, Gurken, Slipeinlagen, Inkontinenzwindeln – sehen sie ja, was alles ankommt. Und was nicht ins Klo gehört.
Die Industrie verschanzte sich hinter den Hinweisen, die auf den Packungen von feuchten Toilettentüchern stehen, manchmal hinter Falzen versteckt, manchmal als Fußnote angefügt: Spülbar, aber bitte maximal drei Tücher auf einen Streich, bitte nur ein oder zwei, bitte nicht mehr als eines.
Die Hinweise klingen, als hätte sie kein Abwassermeister verfasst, sondern ein Anwalt. Klärwerker in Übersee fingen an, Fragen zu stellen: Woher glaubten die Hersteller eigentlich zu wissen, was spülbar war?
So erfuhren sie von den Sieben Stufen der Spülbarkeit.
Höne sagt, so einen Pumpensumpf, das könne man nicht erklären. Müsse man sehen, sagt Höne. Er steigt in seinen Kastenwagen. Auf zu Werk 8, da sind die Pumpen nass aufgestellt. Das bedeutet: direkt im Abwasser.
Die Sieben Stufen der Spülbarkeit. Ist eine Testreihe, von Verbänden der Vlies-industrie. Die erste Stufe simuliert den Start der Reise eines Feuchttuchs: eine landestypische Kloschüssel im Labor, in die Ingenieure drei Zyklen zu 35 Tüchern einspülen, in akkurat aufeinanderfolgenden Chargen – einzeln, dann mit Klopapier, dann in Einheit mit künstlichen Fäkalien.
Höne klappt eine Luke auf, ein tiefer Schacht, unten eine schrundige Kruste. Das ist Fett. Gerinnt gern an Feuchttüchern. Wo sind denn die Pumpen? Na, da drunter, sagt Höne, auf die Kruste deutend.
Die siebte Stufe der Spülbarkeit simuliert das Ende der Reise eines Tuchs: eine tauchbare Pumpe im Testlauf, in die Ingenieure fünf Zyklen zu exakt sechzig Tüchern einspülen – alle zehn Sekunden ein einzelnes Tuch, zehn Minuten lang, bei optimaler Durchflussgeschwindigkeit.
Höne sagt, so eine Kruste, die kriege nur der Wasserwerfer weg. Er bezweifelt, dass sich Spülbarkeit simulieren lässt. Er bezweifelt grundsätzlich, dass solche Worte seine Welt fassen können.
Doch genau darum geht der Streit um Feuchttücher inzwischen. In den USA wurde 2014 Klage gegen Hersteller von Feuchttüchern eingereicht. Der Vorwurf: Sie führten Konsumenten in die Irre – ihre Tücher seien weder spülbar noch zersetzten sie sich. Die Industrie konterte, als spülbar kennzeichne sie nur, was die Sieben Stufen der Spülbarkeit erfolgreich durchlaufe. Seitdem verliert man sich in Details von Simulationen. Verbraucherschützer stecken Feuchttücher in Küchenmixer, um herauszufinden, wann sie sich auflösen. Pumpenhersteller wetteifern darum, die erste tuchsichere Pumpe auf den Markt zu bringen. Vliesfabriken versprechen eine Generation von Feuchttüchern, die sich nach Gebrauch selbst zersetzen sollen. Und die Klärwerker fragen sich, wer ihre Welt wirklich begreifen will.
All die Wochen und Monate voller Alarme hat Höne auch das Gespräch mit denen gesucht, die auf den Toiletten sitzen. In der Zentrale des Wasserverbandes, zu dem seine Anlage zählt, spricht man vom Verbraucher. Aber Höne sagt: der Bürger. Höne hat ein Händchen für den Bürger, er kann gut erklären, was er macht, welche Sachen nicht ins Klo sollen. Also erklärte er, im Dienst und auch privat. Er hatte erwartet, das helfe was. Half nichts.
Auch Höne hat nun mit der Aufrüstung begonnen, wie viele Klärwerker: stärkere, mehr Strom ziehende Pumpen. Wenn er Glück hat, schlucken sie die Feuchttücher; dann verstopfen die ihm nur die Reinigungsrechen. Wenn er Pech hat, laufen auch sie eines Tages heiß.
Jedes Jahr lädt Höne – eine alte Sitte auf Kläranlagen – einige Klassen der Grundschule ein. Er zeigt seine Geräte, seine Klärbecken, seinen Schönungsteich. Dann erklärt er, dass daraus ein Bächlein Wasser entspringt, das in den Calhorner Mühlenbach fließt, der in die Hase fließt, die in die Ems fließt, die in die Nordsee fließt, und dass darum viele Dinge auf keinen Fall ins Klo gehören. Kinder, sagt Höne, kapieren das sofort.