Das Problem: Wohin mit der Corona-Matte?
Die Lösung: In den Abfluss. Französische Friseure basteln aus den Haarresten ihrer Kunden effektive Schadstofffilter.
Der Run auf die Friseurläden nach den Corona-Einschränkungen könnte nicht nur unser Aussehen, sondern gleichzeitig die Umwelt retten. Denn: Ein Kilo Haare filtern bis zu acht Liter Öl und Schadstoffe aus dem Wasser.
Das wollte sich Thierry Gras zunutze machen. Er arbeitet seit 30 Jahren als Friseur in Südfrankreich und beschäftigt sich schon lange mit den nützlichen Eigenschaften von Haaren. Er weiß: An ihnen haften Feuchtigkeit, Fett, und sie isolieren gut. Trotzdem wird echtes menschliches Haar außer für Perücken in Europa praktisch nicht genutzt – sondern landet kiloweise in der Mülltonne. Das war Gras leid, 2015 gründete er deshalb die Organisation Coiffeurs Justes, also die »Fairen Friseure«. Fair, weil Gras sich erstens dafür einsetzt, von Frauen und Männern die gleichen Tarife zu kassieren. Und zweitens fair zur Umwelt.
Gras tüftelte in seinem Salon im südfranzösischen Saint-Zacharie, eine halbe Stunde außerhalb von Marseille, selbst daran, wie sich so ein Haarfilter am besten bauen lässt. Seine Lösung: In alte Nylonstrümpfe gestopft, lassen sich die Haarbüschel, die er vom Salonboden kehrt, prima als Schadstofffilter einsetzen. »Haare sind hydrophil, lipophil, und sie dämmen auch noch ausgesprochen gut«, sagt Gras in einer Reportage des Senders France 3: »Weil wir uns vom Plastik verabschieden wollen, besinnen wir uns auf natürliche Fasern wie Haare, die viele nützliche Eigenschaften haben.« Laut Gras können alle Haare verwendet werden, auch getönte und gefärbte. Nur sauber müssen sie sein, und weil sie im Salon normalerweise vor dem Schnitt gewaschen werden, sind sie das ohnehin.
Coiffeurs Justes verteilt Papiersäcke an Hunderte von Partner-Salons im ganzen Land, lässt sie sich prall gefüllt wieder zuschicken und gibt sie dann an Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Die verarbeiten sie mit alten Strumpfhosen zu Haarrollen. Zunächst dümpelten diese versuchsweise im Hafenbecken des Mittelmeer-Badeorts Cavalaire-sur-Mer an der Côte d'Azur, mittlerweile hat Gras den Versuch auf andere Städte, Hafen und Strände ausgeweitet.
Und die Haarschwämme können auch in kleinerem Umfang genutzt werden, zum Beispiel bei Schwimmbecken. Auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle fangen Haarwürste die Ölflecken von Flugzeugen und Tankwagen auf. Man kann die haarigen Filter waschen und laut Gras bis zu zehn Mal wiederverwenden (wer französisch versteht und sich selbst anschauen will, wie die Haarwürste gestrickt werden, kann das hier im französischen Fernsehen tun).
Im Nebenjob arbeitet die Haarpracht auch noch als Gebäude-Isolierstoff
In den letzten Jahren recycelten die »Fairen Friseure« nach eigenen Angaben 40 Tonnen Haare für Schadstofffilter. 3200 Friseure machten mit, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern inzwischen auch in Belgien, der Schweiz, und anderen europäischen Ländern. In diesem Jahr werden es wegen der Covid-bedingten Salon-Schließungen vermutlich etliche Tonnen weniger sein, aber insgesamt breitet sich die Idee aus wie ein Ölteppich ohne Dämme.
Ursprünglich stammt sie übrigens aus Amerika. Der langjährige Haarstylist Phil McRory schnibbelte 1989 gerade die Mähne einer Kundin in seinem Salon in Alabama, während auf dem Fernseher die Bilder über die Exxon-Valdez-Ölkatastrophe zu sehen waren. Haare binden Fett, dachte er, deshalb waschen wir sie regelmäßig. Könnten wir diese Eigenschaft nicht nutzen, um die Meere zu säubern?
Zehn Jahre später tat sich McRory mit Matters of Trust (»Vertrauenssache«) zusammen, einer gemeinnützigen Organisation in San Francisco, die Haare und Felle zu Matten verarbeitet, mit denen die Verbreitung von Ölteppichen begrenzt werden kann. Auch Hundesalons schicken ihre Pudelwolle zu der Organisation. Als ein Frachtschiff 2007 bei San Francisco fast 200.000 Liter Öl verlor, oder als 2010 das Leck der BP Bohrplattform Deepwater Horizon den Golf von Mexico verwüstete, reisten die freiwilligen Helfer vor Ort, um mit den Haarmatten am Strand das Öl aufzusaugen.
In Australien sind es die Sustainable Salons Australia, die Haare für diesen Zweck recyclen. Dass die Idee funktioniert, haben Forscher von der australischen University of Technology Sydney bestätigt. Sie untersuchten das Haar-Potenzial 2018 und kamen zu dem Schluss, dass Matten aus menschlichen Haar und tierischem Fell Öl nach Ölunfällen am Meeresrand sogar effektiver aufsaugen als vergleichbare kommerzielle Lösungen.
Besonders genial im Sommer: Die Haarrollen filtern auch Sonnenschutzcreme, und das hilft bei einem anderen enormen Problem. Laut der amerikanischen Meeresbehörde NOAA schwemmen wir beim Baden weltweit jedes Jahr rund 6000 bis 10.000 Tonnen Sonnenschutzmittel in die Gewässer.
Und: Selbst wenn unsere Haare ihre Funktion als Filter erfüllt haben, sind sie noch nützlich. Man kann das Material zur Dämmung in Gebäuden als Dünger im Kompost verwenden. Im Nebenjob arbeitet die Haarpracht also noch als Gebäude-Isolierstoff.
Endlich mal ein Umweltproblem, für das wir die Lösung auf dem Kopf tragen!