Liebe zukünftige Lieblingsfrau,
irgendwann werde ich dich fragen, warum du dich eigentlich in mich verliebt hast. Das ist mein Plan: Dich zu fragen, wenn es lange passiert ist – denn es ist die beste Möglichkeit, mich davon abzuhalten, vorher schon darüber nachzudenken, warum du es überhaupt tun solltest, und das ist eine dieser Fragen, die man vermeiden sollte, wenn man nicht tagelang in einer abgedunkelten Wohnung mit Essen von einem chinesischen Lieferservice und einem Album von Leslie Feist verbringen will. Das war mein Sommer 2004, lange her, aber Feist hat gerade ein neues Album herausgebracht, und ich will es nicht hören, um nicht in Gefahr zu geraten. Ich kann die Sonne nicht erzwingen, aber ich muss mich auch nicht in den Regen stellen.
Kater Willy sitzt auf meinem Schoß, während ich das schreibe. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist. Ich hatte ein paar Tage einen Freund zu Besuch, dem es nicht gut ging, und wenn er sich irgendwann im Morgengrauen doch mal hingelegt hat, ist Willy zu ihm aufs Sofa gekrochen und hat sich an seine Brust gekuschelt. »Katzen spüren, wenn es dir schlecht geht«, hat er gesagt, »deshalb werden die auch bei Sterbenden eingesetzt.« Vielleicht auch bei sterbendem Selbstbewusstsein?
Es ist ein Musterbeispiel für verkorkste Sprache, dass wir es Selbstbewusstsein nennen, wenn wir uns unserer Selbst am wenigsten bewusst sind, denn wenn wir es tatsächlich sind, konzentrieren wir uns ja auf unsere Schwachstellen. Wir sind alle selbst unsere ärgsten Feinde. Im schlimmsten Fall verbrauchen wir die Hälfte der Energie bei dem Versuch, jemand Neues kennen zu lernen damit, unsere beste Seite zu zeigen, und nur unsere beste Seite – in der Hoffnung, der andere würde uns am Ende so lieben, wie wir wirklich sind. Ich sehe das doch an mir: Wirklich selbstbewusst bin ich nur, wenn ich mich vergesse. Wenn mich etwas so fasziniert, dass mir egal ist, was irgendjemand anderes darüber denkt. Und ich hoffe, nein, ich glaube, nein, noch viel mehr, ich weiß, dass es so sein wird bei dir: Ich werde mich nicht verstellen können, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt sein werde, fasziniert von dir zu sein. Aber was findest du an mir?
Und da ist er wieder, der Gedanke.
Ich muss dir was gestehen: Ich habe es gekauft, das neue Album von Feist, sogar auf Vinyl, und ich kaufe wirklich sehr wenige Platten. Spotify hat mir irgendwann die Musik zurückgegeben, sie wieder zu einem wertvollen Teil meines Lebens gemacht, nach langen Jahren, in denen sowieso immer von irgendwo »Conny, Conny, mit der Schleife im Haar« durch die Wohnung dröhnte, bis die Mutter meiner Kinder und ich uns einen kompletten Plot für die Folge »Conny stirbt« ausgedacht und uns in blutigen Details erzählt haben, um es erträglicher zu machen. Vinyl ist nur meine Art festzuhalten, dass nicht alle Lieder gleich wertvoll sind. Manche will ich berühren können, weil sie es auch mit mir tun.
Ich werde jetzt an der Küchentür noch eine Zigarette rauchen, und falls Willy nicht in die Nacht verschwindet, werde ich mit ihm ins Wohnzimmer gehen, die Platte auflegen und sie mir endlich anhören. Ich muss mich nicht in den Regen stellen, aber ich kann auch nicht für immer das Wetter entscheiden lassen, wann ich rausgehe.
Beim letzten Mal, vor 13 Jahren, war der Liebeskummer irgendwann vorbei, und kein Jahr später habe ich die Frau getroffen, von der ich dachte, sie wäre die Liebe meines Lebens. Ich habe das immer geglaubt, jede Sekunde, auch noch lange nachdem klar war, dass ich nicht ihre war, und der Schmerz größer als alles, was ich je gedacht hätte ertragen zu können. Aber das Wetter ändert sich.
Ich weiß nicht, was du an mir finden wirst, zukünftige Lieblingsfrau, oder ob ich durchnässt sein werde vom Novemberregen oder verbrannt im Nacken von der Sonne über der Ägäis im August. Aber ich weiß, dass mir das Wetter egal ist. Dass ich gefunden werden will.
Du findest mich unter Willy. Er macht Platz, wenn du kommst.
Foto: Stephanie Pfaender