Ich schämte mich, als Jüdin kein Geld zu haben

Das Stereotyp des reichen Juden hält sich seit Jahrhunderten. Was viele für ein harmloses Klischee halten, kann auf unterschiedlichen Ebenen Unheil anrichten. 

Foto: Alexa Vachon

»Leih dir was von Linda, die hat doch sicher Geld im Rucksack, die ist Jüdin«, rief ein Klassenkamerad über den Pausenhof. Es muss vor etwas über 20 Jahren gewesen sein, doch ich kann heute noch problemlos das Gefühl rekonstruieren, das sich, noch vor der eigentlichen Wut über seinen dummen Spruch, in mir ausbreitete: Scham darüber, dass ich in Wirklichkeit gar nicht genug Geld dabei hatte, um welches verleihen zu können. Tatsächlich, ich schämte mich dafür, dass ich nicht dem Bild entsprach, das seit Jahrhunderten an den Juden haftet und sich nur marginal der jeweiligen Ära und der Gesellschaft anpasst, die es kultiviert und verbreitet. Das Bild der Zinsleiher, Bankiers und Wall-Street-Banker spiegelt sich in fast jeder Karikatur wider. Die Welt glaubt, dass der Sinn für Geld und der Wunsch nach finanziellem Reichtum quasi in unserer DNA steckt. Doch diese Annahme könnte nicht weiter von meinem Verhältnis zu Geld entfernt sein. Damals nicht und heute nicht.

Ich kann nicht mit Geld, Geld kann nicht mit mir. Es rinnt mir durch die Finger wie feiner Sand durch eine Sanduhr, die mir nicht meine verbleibende Zeit, sondern meinen Kontostand anzeigt. Mir geht es gut, ich arbeite viel und gerne in einem Beruf als Autorin, der mich, ohne zu untertreiben, über alle Maßen erfüllt. Aber reich? Ich bin nicht reich. Ich wusste schon als Teenager, dass aus mir keine Beraterin oder Bankerin werden würde, da ich keinen Funken Geschäftstrieb besitze. Was jedoch schon immer in mir glühte, war Neugierde für Menschen und das Leben. Meine Großmutter nannte mich einen »Hans-guck-in-die-Luft«, der nie einen Pfennig auf der Straße findet, weil seine Nase immer gen Himmel zeigt.

Doch, so seltsam das vielleicht klingen mag: Es ist gar nicht so einfach, sich von so einem allgegenwärtigen Vorurteil freizumachen, so etwas nicht an sich heranzulassen und es nicht - sei es nur unterbewusst - zu einem unbedingt erfüllbaren Lebensziel zu machen. Und so sehr ich ahnte, dass es mit mir und dem großen Geld wahrscheinlich nichts werden würde, so wenig ahnte ich, dass sich der besagte Schulhof-Moment wiederholen würde – immer und immer wieder. In der Raucherecke in der Oberstufe waren es die Marlboro-Zigaretten, die mich als vermeintlichen Snob entlarvten, weil die alternativen Stufenschüler Selbstgedrehte rauchten. »Schau mal, wenn man die Packung auf den Kopf dreht, steht dort Orobl Jew!«. Tatsache, wenn man eine Marlboro Packung umdreht, steht dort: Orobl Jew, das kann man lesen wie »horrible Jew«, schrecklicher Jude. Gegebenheiten wie diese reihten sich über die Jahre, vom Teenager- bis ins Erwachsenenalter wie Perlen an eine zu enge Kette, die mahnend in einer Schublade liegt und darauf wartet, an die nächste Generation weitergegeben zu werden.

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Erst kürzlich saß ich mit einem Freund kurdischer Herkunft zusammen, der in Berlin eine Dönerbude betreibt. Ein ehemals schleppend laufender Imbiss, den er mit Fleiß und Schweiß in ein gut laufendes Geschäft verwandelt hatte. Wir sprachen über unsere Träume und darüber, was wir uns mit richtig viel Geld kaufen würden. »Linda, ganz ehrlich«, sagte er, »wenn ich könnte, würde ich ein eigenes Café aufmachen. Eines dieser Cafés mit gigantischer Kaffeemaschine und fünf Baristas in schwarzen Schürzen. Aber wer traut mir zu, so was zu machen? Die Deutschen sehen doch alle in mir den Dönerbuden-Besitzer«. Ich schlug ihm vor, dass er sich Geld aus meinem Wiedergutmachungs-Fond leihen könnte, da ich sowieso nicht wüsste, wohin mit dem ganzen Vermögen. Er lachte. Ich lachte. Weil wir beide wussten, dass er niemals dieses Café eröffnen würde und ich kein Geld zum Verleihen hatte. Da war er wieder, dieser Schulhof-Moment.

An diesem Nachmittag spürten wir beide, wie sehr die Vorurteile über unsere jeweilige Herkunft an uns hafteten. Er, mein kurdischer Freund, hat eine Zweckbeziehung zum Döner und ich eine Hassliebe zum Geld. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Investmentbanking und brotloser Kunst. Vor allem aber liegt sie weit außerhalb der Vorurteile, die seit Generationen aus jedem Juden einen Dukatenesel und aus jedem  Kurden einen Dönerverkäufer machen. Für junge Menschen ist das Finden der eigenen Identität sowieso schon schwierig. Noch schwieriger wird es, wenn Vorurteile über den kulturellen oder religiösen Hintergrund den Weg in eine selbstgewählte Zukunft erschweren.

Immer wieder stolpere ich über Statistiken, die angeblich belegen, dass Juden überdurchschnittlich oft in Managementpositionen, in Hollywood und in Millionärskreisen vertreten sind. Natürlich glaube ich keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe. Aber viel interessanter ist doch, dass es solche Aufstellungen überhaupt gibt. Denn was sollen sie eigentlich belegen? Dass Vorurteile Tatsachen sind, dass die Klischees tatsächlich stimmen? Und wenn? Es gab Zeiten, in denen ein großes Vermögen eine Chance auf Überleben bedeutete. Meine Vorfahren haben sich ihren Familiennamen »Günther« vor Jahrhunderten von einem Grafen mit selbigem Namen gekauft, weil offensichtlich jüdische Namen zu Ausgrenzung führten. Möglich war ihr Namenswechsel, weil sie als Finanzberater für den Adel tätig waren, und dieser ihrer Expertise vertraute. Meine Urgroßeltern konnten sich die Fahrkarten für das rettende Schiff nach Südamerika nur kaufen, weil eine Cousine vermögend war. So zieht sich das Thema Geld wie ein roter Faden auch durch meine Familiengeschichte. Auf die Idee, dass auch heute der SUV vor der Haustüre, der Schmuck im Tresor und das Geld auf der Bank nicht nur Reichtum, sondern auch die Möglichkeit bieten, jederzeit den Wohnort wechseln zu können, bin ich selbst erst vor wenigen Tagen gekommen, als ich begann, mir für diesen Text Gedanken über mein Verhältnis und das meines Umfeldes zum Geld zu machen. Doch es scheint, dass mit mir, der Nachfahrin, die sich weder verstecken noch fliehen muss, dieser rote Faden gekappt wurde.

Mir ist bewusst, dass Außenstehende dieses Dilemma als Luxusproblem abstempeln könnten. Denn auf den ersten Blick ist die Verbindung zwischen Juden und Geld ja ein eher harmloses Klischee. Dennoch haben der Rothschild-Stempel und der Mythos Finanzjudentum viel Unheil über unsere Gemeinde gemacht, sie waren (neben vielem anderen) Anlass für Verfolgung und Ausgrenzung. Aber es ist nicht nur das: Vorurteile über Minderheiten treffen immer auch Einzelne. In meinem Fall hat diese bösartige Annahme dafür gesorgt, dass ich lange mit meinem eigenen (finanziellen) Platz innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gehadert habe, als ich anfing, mein eigenes Geld zu verdienen. Ich liebte und liebe den Umgang mit Worten, stellte jedoch schnell fest, dass Reden zwar Silber, aber Schreiben nicht unbedingt Gold war. Zumindest nicht jenes, das man in Unzen abwiegen kann.