Auf dem Weg nach Hause, kurz bevor ich anfing, diesen Text zu schreiben, lief ich an einem der unzähligen vietnamesischen Restaurants in Berlin vorbei. Eins mit traditioneller Dekoration, mit Bambus, Schilf und kleinen Vogelkäfigen, die von der Decke baumeln. Einige Meter hinter dem Haupteingang zum Lokal befand sich eine schmucklose Tür, die geöffnet war und den Blick in die Küche freigab. Gerade als ich vorbeilief, sah ich einen der Köche einen gigantischen, dampfenden Edelstahltopf aus der Küche tragen. Es roch nach kräftiger Rinderbrühe, etwas süßlich, nach Zimt und Kardamom, nach Salz, Sellerie und Zitronengras, und zum ersten Mal seit wirklich ganz langer Zeit befand ich mich gedanklich im Esszimmer meiner Großeltern, in dem wir gemeinsam als Familie letztmals vor über zehn Jahren den Schabbat gefeiert hatten.
Schon Marcel Proust beschreibt es in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«: Ein Lufthauch genügt, um Menschen in Jahrzehnte alte Erinnerungen zurückzuversetzen. Ich habe kein gut ausgeprägtes fotografisches, dafür aber ein sehr gut funktionierendes olfaktorisches Gedächtnis. So trägt mich der Gedanke an meine Großmutter, die Schabbatabende und die dampfende Rinderbrühe zwar keine Jahrzehnte, aber immerhin ein Jahrzehnt zurück – ich kann mich spielend an jedes einzelne Detail dieser prägenden Stunden erinnern, an denen drei Generationen um den Tisch saßen, meinem Großvater beim Gebet über Wein und Brot zuhörten, und kurz darauf die warme Suppe aßen.
Ich bin, was man eine säkulare Jüdin nennt. Ich bin nicht religiös, fühle mich jedoch mit der jüdischen Kultur und ihren Traditionen, die nicht nur von Region zu Region, sondern auch von Familie zu Familie variieren, sehr eng verbunden. Daher begehe und feiere ich den Schabbat, den Beginn des siebten Tags der Woche, weil seine Botschaft tief in mir verwurzelt ist – wenngleich ich sie nicht immer wahrnehme: Sechs Tage sollst du arbeiten, doch am siebten Tag sollst du ruhen. Das vierte Gebot der zehn Gebote, die Moses laut Überlieferung von Gott empfangen hat. Und damit auch irgendwie die Mutter der Entschleunigungsbewegung.
Religiöse Juden dürfen am Schabbat keinen Strom nutzen, kein Auto fahren, keine Musik hören und nichts Neues erschaffen – wobei Neues in manchen religiösen Gemeinden so streng interpretiert wird, dass bereits ein Funken in einer Stromleitung zu etwas Neuem werden kann. Man verzichtet daher auf alles, auch das Reißen des Toilettenpapiers, um nicht aus Versehen die absolute Ruhe des siebten Tages zu stören. Städte wie Jerusalem und orthodoxe Gemeinden wie jene in Williamsburg-Brooklyn stehen daher von Freitagabend bis Samstagabend still. Im jüdischen Kalender, der wie der islamische ein Mondkalender ist, beginnt jeder Tag am vorherigen Abend. Und so heißen Juden unterschiedlichster Auslegungsgrade den Schabbat Woche um Woche willkommen, wenn am Freitagabend die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen sind. Über den genauen Anfang und das exakte Ende sind sich jedoch auch Rabbiner nicht einig.
Rabbiner Walter Rothschild aus Berlin fasste es schön zusammen: »Letztlich beginnt Schabbat, wenn Sie ihn kommen lassen und er endet, wenn Sie ihn beschließen. Das göttliche Gebot, den Schabbat zu "beachten" und sich an ihn zu "erinnern" als einen Tag jenseits der normalen Zeit, der normalen Routine, der normalen Hektik bedeutet, dass wir nicht auf die Uhr sehen sollten.«
Ich habe mir sämtliche Meditations-Apps runtergeladen, Vinyassa-Flow und Ashtanga-Sonstwas versucht, um dem Lärm und dem mich so oft übermannenden Gefühl der Erschöpfung entgegenzuwirken. Schnell musste ich jedoch feststellen, dass es mir an Aufmerksamkeit und Disziplin mangelte. Fernost liegt mir wohl nicht. Daher denke ich darüber nach, mich wieder intensiver Nahost zu beschäftigen: Immerhin hörte das jüdische Volk erstmals auf dem Berg Sinai vom Ruhetag. Und dieser, der Berg, befindet sich im heutigen Ägypten. Der Schabbat, als religiöser jüdischer Feiertag, steht nicht im krassen Gegensatz zu unserer westlichen, modernen und areligiösen Lebensweise, denn das Gebot, am siebten Tage zu ruhen, ist wegweisend für den autofreien Sonntag und namensgebend für das Schabbatjahr, das Sabbatical, das seit jeher und vor allem heutzutage viele Menschen vor dem Burn-out bewahrt.
Für mich beginnt und endet der Schabbat mit der Erinnerung an die Suppe meiner Großmutter, deren Duft das gesamte Haus, vom Keller bis in den zweiten Stock, in Schabbatlaune brachte. Noch heute kann ich nicht an einem Bund Suppengrün vorbeigehen, ohne daran zu denken, wie sie mit ihren Händen mit den langen Fingernägeln, die immer mit perlfarben lackiert waren, Möhren-, Sellerie- und Kohlrabistücke in einen Topf mit heißem Wasser fallen ließ. An der Schönhauser Allee stehend fiel mir ein, wie lange ich mir keine Zeit genommen habe, diese Suppe nachzukochen. Wie lange meine Küche nicht nach Brühe roch und wie verdammt lange ich mir jene Auszeit nicht gegönnt habe, die mir quasi mit in die Wiege gelegt wurde. Das Schöne am Schabbat ist nämlich, dass die Rituale, die man befolgen kann, sehr weltlich sind: Ein Herd, ein Tisch, zwei Kerzen, etwas Wein, ein Hefezopf und Ruhe.