Und wenn der Rabbiner zurückschlagen würde?

In der Literatur und im Film gibt es keine jüdischen Rächerfiguren - Quentin Tarantinos »Bärenjude« ist die große Ausnahme. Warum eigentlich? 

Foto: Alexa Vachon

Zum ersten Mal sah ich den Film Inglourious Basterds kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 2009. Quentin Tarantinos kontrafaktischer Streifen über einen rachsüchtigen jüdischen Schlägertrupp auf Nazijagd im besetzten Frankreich der Jahre 1941-44. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Freunde und ich erst lachten, dann weinten, dann schrien, wieder lachten und dann mit offenem Mund die Schlussszene verfolgten, in der dem SS-Oberst Hans Landa, gespielt von Christoph Waltz, ein Hakenkreuz in die Stirn geritzt wurde.

Noch heute stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich daran denke, wie Christoph Waltz das Wort Milch betont, als er bei dem französischen Bauern, der eine jüdische Familie in seinem Keller versteckt, ein Glas frische Kuhmilch verlangt. Kurz darauf lässt er den gesamten Holzboden der Hütte von Maschinengewehrsalven durchlöchern. Danach rennt Schoshanna, die einzige Überlebende des Massakers, über ein Sommerblumenfeld um ihr Leben. Ich habe bei der Szene Rotz und Wasser geheult. Sicherlich auch deswegen, weil meine Großmutter Schoshanna hieß, den Krieg überlebte und – wie auch Tarantinos Protagonistin – eine magnetisierende Stärke ausstrahlte.

Wer uns jedoch wirklich umgehauen hat, war Donny Donowitz, der Bärenjude. Ein großer Kerl aus Boston, der gemeinsam mit sieben weiteren US-Soldaten den Nazis im besetzten Frankreich das Leben zur Hölle macht. Und damit der erste prügelnde Jude, den ich auf einer Leinwand sah. Kein verprügelter Jude, sondern einer, der mit einem Baseballschläger die Schädel seiner Widersacher einschlägt. Ich habe mich noch nie geprügelt und ziehe Worte grundsätzlich der Gewalt vor – doch nachdem ich kürzlich wieder Inglourious Basterds gesehen habe und darüber nachdachte, wie sehr Nachrichten und das generelle Bild über Juden in Europa von der Opfermetapher geprägt ist, gefiel mir das Bild des Bärenjuden mit Baseballschläger immer mehr.

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Tarantino ist bekannt dafür, historische Fakten auf den Kopf zu stellen und damit der Geschichte ein neues, gerechteres Ende zu geben: Hitler und Goebbels wurden in Inglourious Basterds erschossen, Django, der schwarze Sklave aus Django Unchained lässt die gesamte Plantage inklusive seines Slavenhalters, dessen Familie und den Komplizen in die Luft gehen, und in Once upon a time in Hollywood, seinem neuesten Film, sehen wir Sharon Tate … ich möchte es nicht verraten. Aber auch hier endet der Film anders als die Realität. So liegt der Reiz dieser Filme natürlich auch an ihrer kinematografischen Umsetzung, den Dialogen und der oft ikonischen Besetzung, vor allem jedoch durch die Neubesetzung von Schlägern und Geschlagenen.

Es gibt nur wenige bekannte Beispiele von sich physisch rächenden Juden in der (Film-)Kunst. Natürlich, auch Steven Spielbergs Schindlers Liste und Roberto Benignis Das Leben ist schön handeln von heroischen Menschen, die dem Lauf der Geschichte nicht einfach das Zepter überließen. Aber hier, in Gestalt von Oskar Schindler, Itzhak Stern und einem zu Tränen rührenden KZ-Häftling, der für seinen Sohn lächelnd in den Tod marschierte, sind es Charakterzüge, die man Juden und Gerechten eher unterstellt als rohe Gewalt: Humor, Geschäftssinn und Verhandlungsgeschick. Donny Donowitz war der erste prügelnde Jude, den ich auf der Leinwand sah.

Und, ich finde, dass es nicht der letzte sein sollte. Nicht im Kino und nicht im echten Leben. Jüdisches Leben in der Diaspora, außerhalb Israels, ist eine Opfergeschichte, natürlich keine selbst gewählte, sondern eine den Tatsachen geschuldete. Verständlicherweise tut sich die jüdische Gemeinde sehr schwer damit, sich von diesem Narrativ zu lösen. Wie auch? Sollen wir jetzt jeden Antisemiten in Köln, München oder Berlin zusammenschlagen? Ich mag diesen Gedanken nicht, doch ich kann mich auch nicht damit abfinden, dass Juden in Deutschland für immer und ewig die körperlich unterlegenen sein sollen.

Daher ist es das durch Donny Donowitz ausgelöste Kopfkino, das mich weiterhin beschäftigt. Ein Gedankenspiel mit dem Szenario, wie sich durch eine neue Form der Schlagzeilen das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde – oder jeder anderen Minderheit – verändern würde, wenn die Geschlagenen und Bespuckten einfach mal bärenjudenartig zurückschlagen würden. Was wäre, wenn es in einer deutschen Tageszeitung plötzlich hieße: Angriff auf Rabbiner: Täter mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus?

Natürlich möchte ich nicht zur Gewalt aufrufen. Wenn überhaupt, dann wäre es Selbstverteidigung. Hier geht es nicht um die biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn-Metapher. Mir gefällt einfach das Gedankenexperiment, wie das Leben der Jüdinnen und Juden in Deutschland aussehen würde, wenn sie als religiöse und kulturelle Minderheit kein Freiwild (mehr) wären. Ich bin das Reden einfach leid. Wir versuchen seit jeher, mit Antisemiten und Rassisten zu reden. Was bringt es, wenn sie unsere Sprache nicht verstehen? Die Sprache der Klügeren, die zugunsten des gewaltfreien Miteinanders immer wieder nachgeben?

In Deutschland geht der Trend zum Antisemitismusbeauftragten. Ein Amt, das bisher ausschließlich von Nichtjuden bekleidet wurde. Aktuell soll sich der zu bemitleidende Jurist und Diplomat Felix Klein als Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus bemühen. Ganz ohne Baseballschläger. Bisher kann ich noch keine Verbesserung feststellen – die Schlagzeilen über gewalttätige Judenhasser, die sich vom bloßen Anblick einer Kippa provoziert fühlen, scheinen sich mit jedem Antisemitismusbeauftragten zu vermehren.

Wie schon gesagt, ich habe mich noch nie geprügelt. Ich weiß auch nicht, ob ich es könnte. Was ich jedoch weiß und wovon ich überzeugt bin, ist, dass sich jüdisches Selbstbewusstsein nicht an Konferenztischen stärken lässt. Vielleicht sollte sich Felix Klein einfach mal mit Quentin Tarantino treffen.