Wenn ich bis zum heutigen Tage zwei Dinge gelernt habe, dann folgende: Mein Hintern ist groß. Aber nicht groß genug, um mit ihm auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Und das ist, so banal sie auch klingen mag, eine für mich sehr wichtige Erkenntnis, die ich tagtäglich versuche, in mein Handeln und Denken zu integrieren. Als ich vor einigen Monaten vor der Herausforderung stand, dieser Kolumne Namen zu geben, wollte ich auf Biegen und Brechen mein Deutschsein und mein Judentum miteinander verschmelzen lassen und etwas kreieren, das beides zu gleichen Teilen vereint. Doch es ging nicht. Nicht alles lässt sich über Nacht, nach 29 oder nach 34 Jahren zu einer homogenen Masse kneten. Daher heißt diese Kolumne nicht »mein deutschjüdisches«, sondern »mein deutsches-jüdisches Leben«. Und wahrscheinlich ist das Schreiben dieser Kolumne mitsamt der einhergehenden Erfahrung auch der Grund, wieso ich dem 29. Jahrestag der deutschen Einheit mit sehr gemischten Gefühlen begegne. Als Jüdin, aber auch als Deutsche.
Von beiden Seiten, mütterlicher- und väterlicherseits, komme ich aus sehr deutschen Familien. Die Vorfahren meines Vaters waren erst Hugenotten, dann Preußen. Meine jüdische Familie mütterlicherseits lässt sich über 400 Jahre auf die Moselregion zurückverfolgen. Ich selbst wurde in Koblenz geboren und meine Mutter hat nur in Tel Aviv das Licht der Welt erblickt, weil ihre Ahnen aus der deutschen Heimat vertrieben wurden. Mein Urgroßvater Julius verdiente sich das Eiserne Kreuz für seine Heldentaten im Ersten Weltkrieg. Mein Großvater nutzt auch heute noch Worte wie »famos« und »seinerzeit«, er drückt sich gepflegter aus als ein Hannoveraner. In Zeiten, in denen Grenzen und Mauern fallen und wir uns alle lieber als Europäer und Weltenbürger bezeichnen, ist Deutschtum zwar keine Tugend. Doch diese Einheit, die deutsch-jüdische, die findet in mir statt.
Innerhalb der jüdischen Gemeinde in Deutschland ist die Frage, ob wir nun deutsche Juden oder jüdische Deutsche sein, definitiv nicht geklärt. Auch nicht über 70 Jahre nach der Schoa oder 29 Jahre nach der Deutschen Einheit, die vieles versprach und manches hielt. Auch als moderner, offener und sich seiner Vorfahren bewusster Mensch hadere ich oft mit meiner stark ausgeprägten deutschen Seite, die im krassen Gegensatz zum mediterranen Einschlag steht, den ich durch die Familie meiner bulgarischen Großmutter erhalten habe. Denn immer dann, wenn ich glaube, als moderne Jüdin einen festen Platz in dieser Gesellschaft gefunden zu haben, belehrt mich die Gesellschaft ungefragt eines Besseren. Diesem Land fällt es nach wie vor schwer, Menschen in mehr als zwei Schubladen zu stecken, ganz zu schweigen davon, sie einfach wegzulassen. Man ist entweder west- oder ostdeutsch, entweder Mann oder Frau, entweder Kapitalist oder Tierfreund, entweder weltlich oder jüdisch.
Das Pathos schwingt automatisch mit, wenn ich sage, dass mir das Deutschland, in dem wir heute leben, Sorge bereitet. Weil Deutschland eben nicht nur Berlin und Köln, nicht nur Oktoberfest, nicht Merkelraute, nicht nur 7 zu 1 gegen Brasilien, nicht nur »wir sind Papst« ist. In den vergangenen Monaten haben mich sehr wütende und uneinsichtige Kommentare, aber auch sehr wohlwollende, teils sogar herzzerreißende Leserbriefe erreicht. Ich fühle, dass ich etwas mit dem Teilen meiner Gedanken bewegen und mein jüdisches Leben in Deutschland vielen Menschen näherbringen konnte. Und auch das, das Annähern zwischen diesen zwei von der Geschichte gezeichneten Völkern, ist ein Teil jener Einheit, die in Deutschland stattfinden muss.
Was hält mich in einem Land, das rechte Parteien wieder erstarken lässt? Was bindet mich an diesen Ort, an dem der Antisemitismus nie verschwunden ist und sich heute wieder rasant vermehrt? Ich kann eine befriedigende Antwort nicht in Worte fassen, da es sie vielleicht nicht gibt. Ist es schlussendlich nur ein Mangel an Alternativen, der mich hier hält? Vor einiger Zeit entgegnete man mir in einer Diskussion, dass ich »als Zionistin« doch nach Hause gehen könne. Nach Hause – gemeint war Israel. Doch Israel ist nicht mein Zuhause, vielmehr ein Ort der Sehnsucht, an dem Juden – vermeintlich – in Frieden leben können.
Ich bin Deutsche. Und das nicht nur auf dem Papier. Ich denke, träume und schreibe auf Deutsch. Ich lese jedoch auch Schlagzeilen über steigenden Antisemitismus auf Deutsch. Ich blicke in den Osten und Südosten dieses Landes und sehe Produkte aus Ignoranz, aus Ablehnung gegen Nuancen und Grauzonen, die in den Zahlen für die AfD münden. Natürlich sehe ich auch den rasant wachsenden Antisemitismus unter Muslimen. Menschen, die hier geboren wurden und Menschen, die in dieses Land kommen. Wenn wir uns sorgen, frage ich meine jüdischen Freunde: Wieso wunder ihr euch so? In der Geschichte des jüdischen Volkes haben wir es noch nie unter die Top 3 der beliebtesten Völker geschafft. Wir lachen dann bittersüß.
Ich kann tatsächlich nicht mit einem Hintern auf zwei Hochzeiten tanzen. So ist Frage, die ich mir heute, am Einheitstag, ganz bewusst stelle: Wenn ich Deutschland nicht ändern und vereinen kann, muss ich vielleicht an meiner Einstellung arbeiten? Sollte ich mich nicht einfach von dem Gedanken lösen, einen ganz festen Platz in dieser Gesellschaft zu haben? Vielleicht ist es einfach Aufgabe der Jüdinnen und Juden, der Migrantinnen und Migranten, der Klimaschützerinnen und Schützer, und allen anderen in ihren Schubladen, dieses Deutschland als in den Köpfen uneins zu akzeptieren und trotzdem damit weitermachen, über ihr mehrschichtiges Leben aus Religion und Tradition, aus Aktivismus und, aus Sehnsucht nach der alten Heimat und Lokalpatriotismus zu erzählen.
An klaren Tagen blühe ich tatsächlich im Glanze dieses Glückes, als Mensch, Frau und Jüdin, in einem demokratischen und freien Land zu leben. Kein perfektes, aber ein gutes Land. Und wenn wir es schon an 364 Tagen im Jahr nicht schaffen, dann sollten wir wenigstens heute nach Einigkeit, Recht und Freiheit streben. Brüderlich, schwesterlich und divers, über alle Schubladen hinweg, mit Herz und Hand aber – vor allem – endlich mit Verstand.