Ich lag an einem Sonntagvormittag im Bett. Die weiße Bettwäsche aus ägyptischem Leinen hatte ich einige Tage zuvor gekauft. Ein teures Set aus einer Reihe teuer Dinge, in die ich seit Neuestem investierte. Seitdem ich an meinem 30. Lebensjahr das Konzept der Zukunftsangst für mich entdeckte, umgebe ich mich so oft es geht mit Gegenständen und Menschen, die langlebig und zuverlässig sind.
Ich balancierte die bis zum Rand gefüllte Porzellanschale auf meinen Knien, während ich an meinem Laptop hantierte. Und natürlich geschah, was geschehen musste: Die braune Suppe aus Milch und Schokoflakes floss über das weiße Leinen. Passend zum Farbthema lief Adolf Hitler gerade auf dem Bildschirm über die Terrasse des Berghofs auf dem Obersalzberg und blickte siegessicher in den Berchtesgadener Sommerhimmel, während Eva Braun auf einer Steinmauer saß und ihre in Wollstrümpfen steckenden Waden auf und ab wippte.
Abgesehen von dem Viertelliter Kakao in und auf meinem Bett, war also alles wie immer. Denn seit Jahren schaue ich sonntags am liebsten Hitlerdokumentationen, während andere auf einer Afterhour tanzen, mit ihren Kindern auf dem Spielplatz oder ihren Hunden am Grunewaldsee sind. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die des Bösen niemals überdrüssig wird. Die Öffentlich-Rechtlichen sorgen dafür, dass ich Wochen, manchmal Monate ohne Wiederholungen auskomme: Hitler auf dem Obersalzberg, Hitler und Eva, Hitler und seine Hunde, Hitlers Helfer, Hitler im Bunker. Das Angebot an Weltkriegsdokumentationen rund um dessen Galionsfigur ist enorm. Ist das der große Aufarbeitungswille der Deutschen? Ich lebe zu lange in Deutschland, um das anzunehmen. Eher unterstelle ich den Zuschauern ein emotionales Potpourri aus Voyeurismus, Ungläubigkeit und Ekel. War es denn wirklich so schlimm? Waren es wirklich so viele? Haben sie tatsächlich von nichts gewusst? Sonntags wissen wir mehr.
Ich würde lügen, wenn ich mich von diesem Voyeurismus freisprechen würde. Beim Anblick der Romanze zwischen Adolf und Eva überkommt auch mich das kalte Kotzen, es ist ein ganz ähnlicher Brechreiz wie jener, den Reality-Shows in mir auslösen. Mit dem essenziellen Unterschied, dass meine Urgroßeltern und viele andere Verwandte unfreiwillige Statisten im nationalsozialistischen Drehbuch waren. Doch obwohl viele aus meiner Familie hautnah von Hitlers Rassenwahn betroffen waren, verfolgt und ermordet wurden, hat das Böse am Sonntagmorgen auf dem Bildschirm eine ganz besondere Wirkung auf mich: Es beruhigt mich. Obwohl ich weiß, was geschehen ist. Weiß, wie viele es waren. Weiß, dass alle ab einem gewissen Zeitpunkt Bescheid wussten. Und das, dieses Wissen, gepaart mit Bildmaterial aus dieser Zeit, entspannt mich. Nicht obwohl, sondern weil ich jedes Ereignis auf dem Zeitstrahl von Hitlers Machtergreifung bis zu seinem Selbstmord im Bunker im Schlaf aufsagen kann. Denn nicht nur meine Edelstahlmandoline und ägyptische Leinenbettwäsche werden mich ein Leben lang begleiten – auch der Antisemitismus, in seinen alten, aktuellen und neuen Formen, wird es.
Von Natur aus bin ich innerlich etwas unruhig und sorgenvoll. Je älter ich werde, desto schlechter gehe ich mit Unberechenbarkeit und unbekanntem Terrain um. Was mir mit Anfang 20 noch großen Spaß machte, das Unkalkulierbare zu wagen, bereitet mir heute zuerst einmal Magenschmerzen, und erst später, wenn alles gut ging, freue ich mich darüber. Und während in Hermann Hesses Gedicht Stufen jedem Anfang ein Zauber innewohnt, kommt eine grässliche Variante dieses Zaubers bei mir eben dann auf, wenn der Blick in die Vergangenheit das Böse berechenbar erscheinen lässt. All die schrecklich bekannten Gesichter – Streicher, Göbbels, Göring – you name them, gepaart mit einer Schale Schokopops, die ich nur am Sonntagmorgen esse, während ich Nazi-Dokus schaue, ergeben für mich das ideale Rezept zur Entspannung.
Sonntage gehören für mich der Vergangenheit, weil am Montag die Arbeit für eine sichere und erfüllte Zukunft wieder beginnt. Zur ultimativen Beruhigung kann es daher nicht plakativ und detailliert genug sein. Gebt mir daher Wagner, gebt mir eine möglichst sonore Erzählstimme, gebt mir den ganzen gewaltigen Güllehaufen, der heute von manchen als »Vogelschiss« bezeichnet wird, und ich bin beruhigt. Karl Marx sagte in Abwandlung eines Zitates von Hegel, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«. Vielleicht ist es das, was mich beim Schauen einer Hitlerdokumentation beruhigt: Das Wissen, dass diese Tragödie einzigartig in ihrer Ausführung ist und das, was wir heute erleben, eine gefährliche Karikatur des Originals ist. Das beruhigende Gefühl in dieser sehr beunruhigenden Zeit, dass sich vieles, aber nicht alles ändert.