Lange Zeit war ich beinahe besessen von dem Gedanken, in eine jüdische Schublade zu passen, die ich bequem in zwei Sätzen erklären könnte. Da ich nicht religiös, sondern liberal erzogen wurde, fiel die traditionelle Kleidung aus ganzjährig getragenem langen Rock, langärmliger Bluse und Kopfbedeckug schon mal raus. Ohne diese äußeren Erkennungsmerkmale blieb also nur eine innere Einstellung zum Judentum, die ich einzuordnen versuchte. Je älter ich wurde, desto deutlicher wurde jedoch die Tatsache, dass sich innerhalb des mir bekannten Spektrums aus ultraorthodox, modern-orthodox, konservativ, traditionell, reform, liberal und areligiös unzählige Nuancen befinden, die man beim besten Willen nicht in zwei Sätzen zusammenfassen kann. Eine einfache Erklärung der eigenen Identität als Jüdin ist praktisch unmöglich. Dabei ist gerade diese, so habe ich das zumindest gelernt, für viele Menschen wichtig, um sich annähern zu können. In Deutschland läuft das oft so ab:
»Bist du religiös?«
»Nein«
»Also gehst du nicht in die Synagoge?«
»Doch, aber selten.«
»Also schon etwas religiös?!«
»Nein, wirklich, gar nicht.«
»Isst du koscher?«
»Nein, nie.«
»Dann isst du auch Schwein?«
»Ja!«
»Na immerhin.«
Durch meine Familie war ich Mitglied in einer religiös geführten Einheitsgemeinde, deren Gottesdienste wir an den hohen Feiertagen besuchten. Wobei das Wort Einheitsgemeinde zwar so klingt, als würden hier alle religiösen Strömungen innerhalb des Judentums unter einem Dach vereint, doch in Wahrheit ist das ein Euphemismus: Es war eine orthodoxe Gemeinde. Doch die Synagoge war auch der einzige Ort, an dem sich Jüdinnen und Juden zum institutionellen Beten in Köln treffen konnten. Die Realität sah dann so aus: Statt zu beten, versammelten sich die meisten Frauen auf der oberen Empore, getrennt von den Männern, und tauschten sich über alles aus, nur nicht über das gesprochene oder gesungene Gebet. Es war eine lebhafte und laute Welt, oft zu laut für andächtig betende Frauen, die versuchten, uns mit lautem Zischen zum Schweigen zu bringen. Eine Welt, die ich kannte, und mit der die in meiner Familie gelebten jüdischen Traditionen vereinbar waren. Aber nur auf Abstand.
Doch es sollte nicht meine Welt bleiben. Getrennte Bereiche von Mann und Frau, der konservative Blick auf die Rollen des Adam und seiner Eva, einer Frau, die Gott aus Adams Rippe formte, Moses, der das Meer teilte, ein brennender Dornbusch aus dem Gott sprach – all das ergab im Laufe meines Heranwachsens immer weniger Sinn. Heute lebe ich in Berlin und fühle mich der jüdischen Tradition nicht trotz, sondern wegen des Abstands zum starren religiösen Konstrukt meiner Heimatgemeinde in Köln mehr verbunden denn je. Ich kenne und lebe heute meine Version jüdischer Tradition, die essenziell von meiner Familie, aber auch durch meine jüdischen Freunde, jüdische Autoren und jüdische Menschen des öffentlichen Lebens geprägt ist. Menschen, die, ebenso wie ich, ein modernes Judentum repräsentieren, das sich nicht nur von der jüdischen Gemeinde, sondern auch von dem Bild emanzipiert, das Juden in Deutschland anhaftet: Die empörten, die geschlagenen, die bespuckten und, wie kürzlich im SPIEGEL Geschichte auf dem Titel erschienenen, die Juden aus einer »unbekannten Welt« von nebenan.
In meiner jüdischen Welt »nebenan« stapeln sich gerade drei Ladungen Wäsche, die ich nach Farbe und Waschtemperatur getrennt habe. Sie liegen auf dem Schlafzimmerboden in unserer Wohnung im Prenzlauer Berg. Einem Stadtteil, in dem historisch weitaus weniger Juden gelebt haben, als beispielsweise in Charlottenburg oder im alten Scheunenviertel, das wenige Kilometer weiter südlich von hier liegt und bis zum zweiten Weltkrieg viele arme, religiöse Jüdinnen und Juden beherbergte. Menschen, die heute in Deutschland kaum vertreten sind. Im Flur, in der mittleren Ebene des hohen Bücherregals, steht ein Chanukka-Leuchter, ein Familienerbstück. Messing, mit einem beweglichen Arm in der Mitte.
Hier lebe ich, hier sitze ich abends fluchend auf dem Boden, während ich meine Steuerunterlagen vorbereite. Hier telefoniere ich mehrmals in der Woche mit meinen Eltern und erzähle ihnen praktisch alles, was in meinem Leben geschieht. Wir tauschen uns aus, wir streiten aber auch über das richtige oder falsche Maß an Jüdischkeit, das bei mir in Berlin oder bei ihnen in Köln gelebt wird. Ich bin eine progressive Jüdin. Eine dem Fortschritt zugewandte, konservative Weltbilder kritisierende, den Schabbat gerne feiernde Jüdin, die in letzter Zeit immer häufiger wütend ist.
Wieso wütend? Weil sich Antisemitismus, auch wenn er Menschen betrifft, die ich nicht kenne, wie ein Phantomschmerz anfühlt. Oder wie Fersensporn, an dem man zwar nicht stirbt, der einen jedoch am Vorwärtskommen hindert. Dazu braucht es nicht nur Hass und offensichtliche Anfeindungen – jedes Titelblatt, das Jüdinnen und Juden als mysteriöse Wesen, als Strippenzieher oder Siedlungsfanatiker darstellt, ist ein Schuss ins Knie des Zusammenfindens. Ich gehöre dazu, zu dieser unbekannten Welt von nebenan. Weil ich mich als erwachsene Frau immer wieder bewusst dafür entscheide, dazuzugehören. Weil meine jüdische Identität, die Identität eines Großteils der Jüdinnen und Juden in Deutschland, nicht namenlos, stumm oder unbekannt ist. Ich empfinde mich, was meinen Alltag angeht, als über die Maßen ordinär.
Meine deutsch-jüdische Welt gleicht in ihren Umrissen der Welt meiner nicht-jüdischen Nachbarn. Erst lange nach dem üblichen Alltagstrott kommen die Besonderheiten, die, je nach persönlicher Auslegung des Judentums, grenzenlos divers sind. In meiner deutsch-jüdischen Welt nebenan glaubt man nicht an Jesus als Heiland. Aber hier, in meiner Welt, glaubt man auch nicht an Moses, der mit einem Dornbusch sprach und Gottes Wort lauschte. Anstatt krampfhaft nach einer Schublade zu suchen, in die alles reinpasst, versuche ich, meine Identität selbst zu bestimmen und nicht von anderen Menschen bestimmen zu lassen. Es wird immer Menschen geben, die das Bild des unbekannten, stummen, wehrlosen Juden aufrechterhalten möchten. Weil es sich verkauft. Weil es öde ist, Juden an der Wursttheke, beim Ausfüllen eines Kreuzworträtsels oder im Urlaub auf einem Clubschiff zu porträtieren.
Ich habe mich nun einige Zeit gefragt, was die – für mich – richtige Reaktion auf die Wahrheit über jüdisches Leben in Deutschland, verzerrende Titelblätter und Reportagen ist: Ich habe mich entschieden, über mich und mein gar nicht so mysteriöses Leben zu schreiben.