Ein Kompass mit zwei Nadeln

Persönliche Vorbilder muss man nicht nur in Geschichtsbüchern suchen: Wie unsere Autorin im jüdischen und im preußischen Zweig ihrer Familie zwei sehr unterschiedliche Frauen fand, an denen sie sich ein Beispiel nehmen will.

Foto: Alexa Vachon

Im Wintergarten meiner Großeltern war immer Preußen. Die Eltern meines Vaters lebten gemeinsam in einem Haus im Taunus, das heute noch von meiner Großmutter bewohnt wird. Doch die Tatsache, dass das weiße zweistöckige Gebäude  im hessischen Lahntal liegt, also weit weg von Preußen, ist völlig irrelevant für meine Erinnerung, in der im Wintergarten nun mal immer Preußen war. Und was dieses Empfinden nährte und bis heute am Leben hält, war mein Großvater. Ein hochgewachsener Mann preußischer Abstammung, groß wie ein Baum, unter dessen schweren, humpelnden Schritten der Holzboden knarzte; der General einer streng geführten preußischen Enklave im bäuerlichen Exil. Oft und gerne benahm er sich wie Professor Higgins aus »My Fair Lady«, der seiner Eliza, meiner Großmutter, das Platt austreiben wollte. 

Die Position, die Oma einnahm, war von einer Form der devoten Diplomatie geprägt, die man heute wohl abschätzig als antifeministisch abstempeln würde. Dabei war sie es, die mit ihrer nachsichtigen und bis zur Selbstaufgabe verständnisvollen Art, das Klein-Preußen ihrer Jugendliebe zu einem von uns geliebten Zuhause für ihre Kinder und Enkelkinder machte. Sie verstand, durch diplomatische Manipulation den ein oder anderen Kampf für sich zu entscheiden. Erika, geborene Erika Luise, verfügt über einen heute noch messerscharfen Verstand, mit dem sie seit Jahrzehnten das Weltgeschehen in Form von unzähligen Tagebüchern kommentiert. Als Kind interessierte ich mich für all diese menschlichen Herausforderungen nicht. Doch viele Jahre später weckte eine andere Luise meine Aufmerksamkeit, deren Lebensweg aus Liebe, Schicksal und der Macht weiblichen Verhandlungsgeschicks, phasenweise dem meiner Großmutter gleicht: die Preußenkönigin Luise, Mutter von Kaiser Willhelm I.

Obwohl selbst das Gymnasium, das ich besuchte, nach Königin Luise benannt war, beschäftigte mich lange Zeit der preußische Einfluss auf mich, mein Leben und, schlussendlich, auch auf meinen Charakter gar nicht. Die jüdische Tradition in meinem Elternhaus mütterlicherseits, die auch mein nichtjüdischer Vater verinnerlichte und schätzen lernte, war mein Anker in einem tobenden Meer der Identitätsfrage. Und Debora, meine Mutter, spielte dabei eine essenzielle Rolle. Sie wurde nach der biblischen Prophetin und Richterin Debora benannt, die von den Israeliten aufgesucht wurde, um Recht zu sprechen. Damit war sie die einzige Frau im alttestamentarischen Richterbuch, die diese Position innehatte und mittels ihrer Prophezeiungen das jüdische Volk in Kanaan nach 20 Jahren Besatzung durch einen feindlichen König befreite.

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Nach Jahrtausenden, in denen Männer unsere Zeit prägten und Geschichtsbücher füllten, sind es heute glücklicherweise immer mehr Frauen, die Vorbildfunktionen erfüllen. Als ich mit Anfang 20 von zu Hause auszog und anfing, mein Leben selbstständig zu bestreiten, suchte ich – mal bewusst, mal unbewusst – lange nach inspirierenden Frauen, an deren Biografie ich mich orientieren könnte. Natürlich stolperte ich dabei über Marie Curie, Rosa Parks und Lou Andreas-Salomé, doch emotionale und ideelle Nähe wollte sich nie einstellen. Trotz ihrer Kraft, dem Intellekt und der Weiblichkeit, empfand ich ihre abgedruckten Lebensläufe als zu zweidimensional, um mich wirklich mitreißen zu können. Ich brauchte Vorbilder zum Anfassen und Austauschen; Frauen aus Fleisch und Blut.

Anstatt also in Geschichtsbüchern, Kinofilmen und Regierungssitzen nach weiblichen Vorbildern zu suchen, fing ich an, mich bewusst mit den Frauen in meiner Familie zu befassen. Dabei stieß ich unwillkürlich auf Debora und (Erika) Luise. Frauen, die mir nicht näherstehen könnten, und viel von dem verkörperten, was ich heute über ihre Namensgeberinnen weiß. Luise, die sehr jung ihren Prinzen (den späteren König Friedrich Wilhelm III.) heiratete und kurze Zeit zu einer Unterredung mit dem Feind Napoleon Bonaparte genötigt wurde, finde ich in meiner Großmutter wieder, für die auch der Frieden innerhalb und außerhalb des Hauses über allem anderen steht.

Von ihr schaue ich mir ab, mich öfters in Geduld und Nachsicht zu üben und diplomatisches Geschick meinem eigentlichen Temperament vorzuziehen. Obwohl ohne preußische Wurzeln geboren, meisterte meine Großmutter den Sprung von ihrem bäuerlichen Zuhause, einer alten Mühle, in die Arme eines Mannes, dessen Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben bis zu seinem Tod von Regeln und Manieren durchzogen war. Was Diplomatie, Geduld und Nachsicht betrifft, habe ich noch einen langen Weg vor mir. Als moderne Frau möchte ich die Ehe meiner Großeltern, die im Wirtschaftswunder-Deutschland der 50er-Jahre begann, natürlich nicht nachahmen. Kompromissbereitschaft und ein gelockertes Beharren auf den eigenen Vorstellungen – das ist mein Vorbild.

Die biblische Richterin Debora wiederum, lebt tatsächlich in Teilen auch in meiner Mutter. Heute ist es nicht das jüdische Volk, das Rat bei ihr sucht, sondern die halbe Nachbarschaft und, natürlich, auch ich. Von ihr lerne ich, für mich einzustehen und dass die Existenz von Frieden und Fairness auch ihren Preis hat. Debora, meine Mutter, hat mich dazu erzogen, laut zu werden, wenn ich Unrecht sehe und meinen Wert zu erkennen, wenn er mir von Dritten aberkannt werden sollte. Die Beziehung meiner Eltern ist lebhaft, für den Geschmack meiner Großmutter zu lebhaft, und wird zweifelsohne durch den oft nicht zu bändigenden Willen meiner Mutter vorangetrieben. Als moderne Frau in einer Welt, die man idealerweise mit der richtigen Balance aus Nachsicht und Voraussicht bestreiten sollte, finde ich ideale Vorbilder in der Diplomatin Luise und der Prophetin Debora.

Frauen, die, wenn man sie nebeneinander sieht, kaum unterschiedlicher sein könnten. Ich empfinde es daher so, dass sich durch sie Orient und Okzident, gelebtes Judentum und erlerntes Preußentum, in mir vereinen, und in mir einen neuen Horizont bilden.

Ich habe Michelle Obamas Autobiografie kürzlich verschlungen und sehe in der Richterin Ruth Bader-Ginsburg eine der bedeutendsten Frauen dieses Jahrhunderts – doch zu wissen, dass ich die Möglichkeit habe, meine weiblichen Vorbilder zur Tages- und Nachtzeit zu kontaktieren, ihre Bewegungen zu studieren und dabei von zwei gänzlich unterschiedlichen Herangehensweisen an Liebe, Erfüllung und Sinnhaftigkeit zu profitieren, ist für mich eine ganz besondere Form von moralischem Kompass, der mir den Weg leitet. Nur ist mein Kompass dank Debora und Erika Luise ein Kompass mit zwei Nadeln.