Ich kann an keinem Fischladen vorbeigehen, ohne »oh, ein Fischladen!« zu sagen. So war es auch vor einigen Tagen, als ich durch unseren Kiez spazierte und vor einem Geschäft Halt machte, dessen Fischtheke bis ins Schaufenster reichte. Ich blickte in die glasige Pupille eines fangfrischen Karpfens, der auf dem Bauch liegend bis auf den Grund meiner Seele schaute. Und während wir, der tote Karpfen und ich, uns tief in die Augen blickten, dachte ich daran, dass wir in wenigen Tagen Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest feiern, an dem traditionell Fisch, besonders aber der Kopf eines Karpfens gegessen wird, der den Anfang des Jahres symbolisiert. Jahr für Jahr stürmen Juden weltweit die Fischläden ihres Vertrauens, um sich besonders prächtiges Exemplar zu sichern. Und während der Fischkopf auf dem Präsentierteller landet, werden Körper, Flossen und Schwanz durch den Fleischwolf gedreht, um den berühmten »Gefillten Fisch« zuzubereiten, die Königsdisziplin der jüdischen Küche Osteuropas, an die ich mich bis heute noch nicht herangetraut habe.
Am Sonntagabend, den 30. September, beginnt das jüdische Jahr 5780. So gesehen ist dies eine Nachricht aus der Zukunft, in der ich über die vergangenen 365 Tage, meine jüdischen Tage, sinniere. Denn Rosch Haschana ist neben Pessach mein Lieblingsfeiertag und einer der wenigen Tage im Jahr, an dem ich in die Synagoge gehe. Das mag zum einen an der Fülle von Speisetraditionen liegen, die das jüdische Neujahr umgeben, zum anderen aber auch daran, dass ich mich sehr fürs Symbolische interessiere. Und alles an diesem Abend und den darauffolgenden Tagen ist voll mit Zeichen der inneren Einkehr, süßen Wünschen für das neue Jahr und dem Wunsch, zehn Tage später, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, von Gott ins Buch der Gerechten eingetragen zu werden.
Ich glaube nicht an einen Mann im Himmel, der meine guten und schlechten Taten des Jahres in sein großes, in Leder eingebundenes Buch notiert. Was mich jedoch am Innehalten nach vier Jahreszeiten und einem Jahr vergangener Taten reizt, ist das Bilanzieren. Wer war ich vor einem Jahr und wer bin ich heute? Was habe ich gelernt? Woran bin ich gescheitert und woran gewachsen? Als deutsche Jüdin, die sich zwischen zwei Realitäten bewegt, der jüdisch-traditionellen und weltlichen, habe ich dazu sogar zweimal im Jahr die Gelegenheit. Am 31. Dezember und irgendwann zwischen September und Oktober, denn der jüdische Kalender ist, wie auch der islamische, ein Mondkalender, an dem sich die Daten der Feiertage je nach Mondphase verändern.
Am Abend des jüdischen Neujahrs versammeln sich Familien und Freunde zum Essen. Es sind fröhliche Abende, an denen wir Apfelschnitze in Honig tunken, Honigkuchen und eine runde Challa, einen Hefezopf, essen, der das runde Jahr symbolisiert. Der Honig stimmt uns auf die hoffentlich zu erwartende Süße des neuen Jahres ein und der Granatapfel steht mit seinen vielen Kernen sinnbildlich für die Hoffnung, dass sich »unsere Gerechten wie Granatäpfel mehren«. In meinem Alltag, der durchweg von weltlichen Herausforderungen durchzogen ist, geben mir diese Symbole spirituellen Halt, ohne dass ich mich als religiöse Jüdin identifizieren muss. Und das Schreiben dieser Kolumne, die mich immer wieder gedanklich herausfordert, meine Rolle als Mensch, Frau und Jüdin zu definieren, bringt mich der Liebe zur Symbolik noch näher.
Ich könnte natürlich an jedem beliebigen Tag der Woche Äpfel und Honig tunken und an einem Fischkopf nagen – doch das alleine macht natürlich noch nicht die Bedeutung aus: Es ist das Zusammenspiel aus Menschen, Tradition und Hoffnung, und es sind die positiven Gedanken der Gemeinschaft, die den Nährboden für ein gutes, süßes neues Jahr bereiten sollen. Auch das sage ich meinen Kritikern, von denen es nicht erst seit dieser Kolumne viele gibt: Vielen würde der Glaube an etwas, das sich außerhalb unseres logischen Geistes bewegt, guttun. Dabei meine ich nicht den simplen, unreflektierten Glauben an Gott, sondern das Gefühl des Aufgehobenseins durch Riten, Traditionen und Symbole. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein Granatapfel oder ein Karpfenkopf ist. Mir geht es um bewusste Identifikation mit meinen Wurzeln, die innerhalb meiner Familie Jahrhunderte und innerhalb des jüdischen Volkes – angeblich – in wenigen Tagen 5780 Jahre zurückreichen. Mich erdet der Gedanke, dass mein Leben, das dermaßen auf Zukunft gepolt ist, unter anderem von etwas Vergangenem gehalten und geprägt wird.
Der Jüdin in mir hat das vergangene jüdische Jahr gelehrt, dass wir als Gesellschaft zu wenig gelernt haben. Es stimmt mich traurig, dass Rassismus und Antisemitismus weiterhin einen so erheblich großen Teil der Schlagzeilen in diesem Land ausmachten; Tendenz steigend. Es stimmt mich wehmütig, dass ich durch die vergangenen Texte dieser Kolumne verstanden habe, wie schwer es vielen Menschen fällt, Religion und Tradition von Religiosität zu trennen. Kann ein Miteinander nur unter genormten, Einheitsatheisten funktionieren? Ich möchte mich nicht zwischen Tradition und Technologie entscheiden müssen, sondern (weiterhin) mein eigenes Konzept fortführen und an meine Kinder weitergeben. Weil ich weiß, wie viel Frieden bereits ein in Honig getunkter Apfel dem Moment geben kann. Die Zeichen der Zeit und die Symbole einer in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegebene Tradition stehen nicht in Konkurrenz um das Recht auf Wahrhaftigkeit zueinander – sie koexistieren in mir und versüßen mein Leben.