Ich bin bereits mein gesamtes Leben jüdisch. Und einen Großteil davon wünschte ich mir einen richtig jüdisch klingenden Nachnamen. Als Zehnjährige konnte man mich daher nicht mit einem Pony, sondern mit einem erkennbar jüdischen Familiennamen beeindrucken. Berg, Stein, Gold, Silber, gerne Edelmetalle, gerne Felskonstrukte, am liebsten natürlich »Rothschild«. Diesen Namen wiederholte ich immer wieder leise beim Spielen in meinem Zimmer, indem ich das R ganz langsam und mit theatralischem Rollen im Rachen wachsen ließ. Rothschild, das war für mich der Olymp jüdischer Identität. Denn damals, vor der Gymnasialzeit, war mir der Rattenschwanz an Negativemotionen, die man in Deutschland mit jüdischen Bankiersfamilien verbindet, noch fremd. Als dann 2007 die Finanzkrise über uns hereinbrach und Lehman Brothers der hässlichen Fratze des Finanzjudentums, wie es ein Kommilitone nannte, ein modernes Gesicht gab, wechselte ich innerlich von Rothschild zu Rubinstein.
Die Familie meines Vaters stammt von französischen Hugenotten, nicht von kanaanitischen Hohepriestern ab. Ich heiße Sabiers, nicht Silberstein, und haderte aufgrund dieser Lücke in meinem jüdischen Namenslebenslauf jahrelang mit meiner Identität innerhalb der jüdischen Gemeinde, deren innere Strukturen ähnlich aufgebaut sind wie ein Stammbaum der Royals. Da mache ich mir heute nichts vor. Seit 34 Jahren suche ich nach der idealen Balance zwischen Abgrenzen und Einblenden. Abgrenzen, wo ich mich ganz klar als Jüdin positioniere, auch ohne erkennbaren Namen, und Einblendung, wenn ich nicht auf meine Herkunft und meine Meinung zum Nahostkonflikt angesprochen werden möchte. Mein persönlicher Walzer auf dem Vulkan. Wobei die Tatsache, keine Rothschild zu sein, mir eben diesen Luxus ermöglicht: Mir aussuchen zu können, ob ich auf den ersten Blick Jüdin bin oder nicht.
Nachdem ich lange Zeit davon überzeugt war, mit dem Namensthema abgeschlossen zu haben, kochte es vor einigen Wochen wieder auf. Ich las einen (eigentlich ziemlich schlecht geschriebenen) Artikel über Whoopi Goldberg, deren jüdischer Name für mich bislang nie zur Debatte stand. Ein US-amerikanisch-jüdischer Autor ging der Frage nach, ob Whoopi nun jüdisch sei oder nicht. Sie selbst nennt sich »ein katholisch-jüdisches Mädchen«, das ihren Vornamen einem Furzkissen und den Nachnamen eben ihren jüdischen Vorfahren verdanke. Afroamerikanische Juden gibt es, wieso dann nicht auch Caryn Elaine Johnson alias Whoopi Goldberg?
Doch laut mehreren Quellen gibt es keine jüdische Verwandtschaft von Whoopie, die den Namen Goldberg trägt. (Ihre Großmutter hieß Rachel Freedman, das las ich zumindest auf der in den USA bekannten Plattform »Jew or not Jew«, eine Tatsache, die man eigentlich niemandem erzählen sollte). Die Wahrheit sei, so mutmaßte der Autor, dass Whoopi als angehende Schauspielerin den Rat ihrer Mutter befolgte, und sich, um Karriere in Hollywood zu machen, einen jüdischen Nachnamen zulegte. Ihren heutigen Künstlernamen. Aber wer war ich, in Zeiten von Fake News, die Nase darüber zu rümpfen, ob ihr Name nun echt oder Mittel zum Zweck war? Es ist, oder sollte doch eigentlich egal sein, ob auf der Garderobentür Johnson, Goldberg oder Schweighöfer steht. Doch der Text und die bloße Vermutung trafen einen Nerv, der seitdem hinter meinem Zwerchfell auf meine Identität drückt. Und zwickt.
Mir, der emanzipierten und weltoffenen Jüdin, die ich sein möchte. Das Kind einer Mischehe. Wenn sich mein Puls nicht einmal durch neue Statistiken über wachsenden Antisemitismus aus der Ruhe bringen lässt, wieso dann durch diese banale Meldung? Natürlich hätte ich im Laufe der letzten Jahre irgendeinen Berg, Stein oder Feld heiraten oder mich einfach selbst Rachel Goldbergstein nennen können, um endlich an meinen langersehnten Familiennamen zu gelangen. Aber das ist es nicht, denn Namen haben im Judentum eine identitätsstiftende Bedeutung, die gleichzeitig auf Schultern lastet oder – wie man in Hollywood vermutet – Türen öffnet. Man nennt sich, zumindest in meinen Augen, nicht einfach um und ist dann wirklich Rachel Goldbergstein – mit fiktiver Verwandtschaft aus Litauen und Polen, über deren Verbleiben nach dem Krieg man nichts wisse. In Hollywood mag das klappen, aber nicht in Europa. Keine Abgrenzung möglich, ein friedliches Abtauchen in der Masse unmöglich.
Zu oft war ich Zeugin des Kommentars, dass man auch »gerne dazugehören würde«, weil wir als Volk so vernetzt seien. Ein Kommentar wie ein Wolf im Schafspelz.
Ich trank den dritten Kaffee und dachte an meine jüdischen Vorfahren. Kaufleute und Viehhändler aus einem Moseldorf, die zu Zeiten deutscher Herzogtümer ihren Familiennamen von einem rheinland-pfälzischen Adligen erwarben, um möglichst unjüdisch zu klingen. Sie müssen sehr vermögend gewesen sein, denn der Mädchenname meiner Mutter lautete Günther. Kein Türöffner in Hollywood, aber hilfreich in Zeiten, in denen Juden von Zünften und Innenstädten ausgeschlossen waren.
In Deutschland des Jahres 2019 würde ein jüdischer Künstlername in einer erfolglosen Farce enden. Ich stelle mir dabei nur Matthias Schweighöfer vor, der sich, um seinen Erfolg anzukurbeln, in Matthias Bergsteiger oder Salzschweiger umnennen würde. Ja ja, jüdische Verwandte, gefunden über eine Genealogie-Website. »Ach ja, so vielseitig, und Jude ist er auch noch. Das sieht man ihm gar nicht an«, würde es aus verständnisvollen Kreisen heißen. Die jüdische Gemeinde würde Kopf stehen, der Zentralrat der Juden einen offenen Brief verfassen und der jüdische Durchschnittsbürger sich fragen, ob die Leute da draußen wirklich meinen, dass unsere über 25 Generationen vererbte Identitätskrise ein Witz sei.
Hier zwickt die Tatsache wieder in meinem Zwerchfell, dass trotz unserer Jahrtausende währenden Historie aus Verfolgung und Entwurzelung ein jüdischer Nachname als Mitgliedskarte im »Klub der Netzwerkenden« gesehen wird. Zu oft war ich Zeugin des Kommentars, dass man auch »gerne dazugehören würde«, weil wir als Volk so vernetzt seien . Ein Kommentar wie ein Wolf im Schafspelz. Mir persönlich geht es nicht um Antisemitismus – das wäre zu banal. Es geht vielmehr um das sensible und allgegenwärtige Thema I-den-ti-tät. Vier Silben, die jedes Kind einer kulturellen Minderheit mit dem ersten Atemzug verinnerlich. Wer sind meine Ahnen? Wer bin ich? Und zu welchen Teilen? Dabei spielt der Name auf dem Klingelschild eine größere Rolle, als Außenstehende vermuten.
In einigen Monaten werde ich heiraten. Einen Nichtjuden, einen ganz großartigen Nichtjuden. Damit wird die Suche nach dem jüdischen Namen offiziell beendet und die Frage, ob es denn mal einer sein wird, beantwortet sein. Nein. Kein Silber, kein Gold, kein Kupfer, kein Diamant. Keine Edelmetalle auf dem Klingelschild. Ich nehme seinen Namen an und behalte meinen für meine Autorentätigkeit. Und es ist gut so, wie es ist. Denn mit der Zeit lernte ich die Unklarheit und das nicht automatische Zuordnen meines Nachnamens lieben, und verstand, in meine Identität aus preußisch-korrekt und jüdisch-verstreut hineinzuwachsen. Aber das dauerte Jahre.