Er hat es tatsächlich von null auf eins geschafft. Mit seiner CD Der Mann
mit der Mundharmonika zog Michael Hirte diese Woche an Stars wie Herbert Grönemeyer und AC/DC vorbei, auch Guns ’N Roses und die Toten Hosen hatten das Nachsehen. Vor nicht einmal drei Wochen hatte Hirte die RTL-Show Das Supertalent gewonnen, nun steht schon seine CD in den Läden – und ein Mann an der Spitze der Charts, der vor Kurzem noch auf der Straße musizierte.
Zum Erfolg trug seine turbulente, in Fernsehen und Boulevardpresse
ausgebreitete Lebensgeschichte bei. Hirte war Lkw-Fahrer, lag 1991 nach
einem schweren Unfall zwei Monate im Koma, kann seitdem auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Er machte Gelegenheitsjobs, lebte von Hartz IV und verdiente sich mit der Mundharmonika ein paar Euro dazu. „Ich habe als Straßenmusiker angefangen, um meine Familie zu ernähren“, sagt er. Wie beim Engländer Paul Potts verwandelte auch bei Michael Hirte die PR-Maschinerie der Casting-Show einen einfachen Mann mit musikalischem Talent und mitleiderregendem Schicksal in ein Pop-Phänomen. Während es zu Potts nicht viel zu sagen gibt, geht Hirtes Erfolg auf
interessante Weise Hand in Hand mit dem bestimmenden politischen Thema dieses Herbstes. Pünktlich zur Wirtschaftskrise bringt er das Instrument des kleinen Mannes wieder zurück auf die Bühne. Die Mundharmonika, ein billiges Instrument, war lange die Posaune der Arbeiterklasse und ihrem Sound haftet dank jahrzehntelanger kultureller Prägung etwas Proletarisches an, ob in den aufmunternden Kampfliedern der Folkmusik oder dem expressiven Gejammer des Blues.
Viele Anekdoten erzählen davon, wie arme, aber begabte Kinder in
Ermangelung anderer Instrumente zuerst auf der Mundharmonika brillierten. Der bekannteste davon ist Stevie Wonder, der sich zur Erinnerung an seine einfache Herkunft bis heute kaum anders als mit Mundharmonika in der Hand fotografieren lässt.
In diese Tradition ordnet sich auch Hirte ein, zumindest optisch. Auf dem
Cover seiner CD posiert er mit einer proletarischen Schirmmütze, wie sie
schon der Folksänger Woody Guthrie getragen hat; hier wird die Aura von
Depression und Weltwirtschaftskrise verbreitet und vom kleinen Mann, der den Mächten des Schicksals die Stirn bietet. Die CD enthält dann aber leider nur Schnulzendreck.
Michael Hirte spielt nicht den Hartz-IV-Blues, sondern Ave Maria, Stille Nacht und Time To Say Goodbye. Er spielt schön, aber ein eigener Zugriff auf die Musik, eine eigene künstlerische Persönlichkeit ist nicht zu erkennen. So bleibt die Frage, wie die Popmusik auf die Finanzkrise
reagieren sollte, weiterhin offen.