Christian Ude im Glockenspiel des Münchner Rathauses. Auch seine Regentschaft erinnert an die Zeiten absolutistischer Herrscher.
Es muss gleich zu Beginn dringend klargemacht werden, welch einen Glücksfall Christian Ude darstellt – ein Sachverhalt, den man gar nicht oft genug betonen kann in München, wenn man es gut meint mit Ude, und das tut hier jeder. In dieser Stadt gehört es zum guten Ton, ihn als brillant, großartig, witzig – als einen Glücksfall eben zu bezeichnen.
Und dann geht man auf einen Termin, das kann die letzte kommunalpolitische Pflichtübung sein, eine Krippeneröffnung, ein Vereinsjubiläum, eine Lehrlingsfreisprechung. Und was soll man sagen: Er spricht brillant, großartig und witzig, als Redner ist und bleibt er ein, tja, Glücksfall. Immer. Ude hält nie eine schlechte Rede. Ude ist nie witzlos. Ude lässt es nie an Esprit fehlen. Und das 15 lange Jahre als Münchner OB. Kann das wahr sein? Offensichtlich ja. In München tobt der Wahlkampf, am 2. März ist OB- und Stadtratswahl. Als Ude sich dieser Tage mit seinem CSU-Herausforderer Josef Schmid zu einem ersten Wahlkampf-Höhepunkt trifft, nämlich einem TV-Kandidatenduell, da tut Schmid zwar viel, um auf Augenhöhe mitzuhalten und vergessen zu lassen, dass er jahrelang als Seppi Schmid Stadtteilpolitik am Stadtrand gemacht hatte. Doch irgendwann kommt eben der vernichtende Vollstreckersatz aus dem Munde Christian Udes. Nicht mit dem Säbel, sondern mit dem leichten Florett, genauso zustoßend und durchdringend allerdings. Schmid legt dar, was er am Islam als nicht zum europäischen Kulturkreis gehörend empfindet, und verweist darauf, viele muslimische Mädchen dürften vor der Ehe keinen Freund haben. Er habe nicht gewusst, kontert Ude trocken, dass das Recht auf vorehelichen Verkehr nun schon zum abendländischen Wertekanon gehöre. Das genügt, damit alle wissen, wer in München der Schmid ist und wer nur der Schmidl.
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Schon seit Jahren erschöpfen sich Berichte in den Münchner Lokalteilen über Udes Erscheinen auf Veranstaltungen darin, ihm einen »gewohnt souveränen Auftritt« zu bescheinigen, gern heißt es, er habe wieder einmal »eine Kostprobe seiner kabarettistischen Fähigkeiten gegeben«. Wenn alles richtig gut läuft, dann war Ude »selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich witzig«. Dabei pflegt er eigentlich einen Sprachstil, der durch seine lang gestreckten Vokale auch als einschläfernd empfunden werden könnte. Es ist auch nicht so, dass Ude immer nur leichte Kost servieren würde, im Gegenteil. Geradezu genüsslich stürzt er sich auf sperrige Themen, die sich schon vom Lautmalerischen her nach echter Arbeit anhören: Gewerbesteuerumlage! Vorgezogene Bürgerbeteiligung! Und, sein Hit im laufenden Wahlkampf: die kommunale Daseinsvorsorge, Udes Quasi-Mantra.
Der sperrige Begriff steht dafür, dass die Stadt ihre Versorgungsbetriebe nicht privatisieren soll; Ude hat ihn inzwischen so oft in den Mund genommen, dass die Parteifunktionäre schon die Augen verdrehen, wenn es wieder losgeht. Doch Ude ist keiner, der sich von solchen Reaktionen beeinflussen ließe. Mit Fleiß lässt er, wie zum Trotz, einmal im Jahr einen »Tag der kommunalen Daseinsvorsorge« auf dem Marienplatz veranstalten.
In solchen Momenten ist Christian Ude, der Intellektuellenpolitiker und Schwabinger Freigeist, viel näher an seinen etwas staubigen Vorgängern Hans-Jochen Vogel und Georg Kronawitter, als es ihm möglicherweise lieb ist. Oder, anders gesagt: weit weg von seinem zuerst erlernten Beruf, dem des Journalisten, und viel näher dran an seinem zweiten Metier, der Juristerei. Mag sein, dass sein dritter Job, der des Politikers, die Synthese aus beidem ist. Das hätte dann Methode – hier die flapsige Stichelei, das treffende Wort, das ironische Statement. Und dort das Schwarzbrot, die langweiligen Akten, die Sitzungen und nie zu einem Ende kommenden Planungsverfahren. Hier die Witzchen und die Bonmots. Und dort der fast langweilig bodenständige Bürgermeister-Anstrich der Verlässlichkeit.
Ergibt zusammen nicht nur Anerkennung bei der Kulturschickeria und den Intellektuellenzirkeln, sondern auch bei Otto Normalwähler auf der Straße. Und Wahlergebnisse in Größenordnungen, wie man sie in Bayern sonst nur als CSUler erzielt. »Eigentlich ist er zu Hause im obersten einen Prozent der Bevölkerung«, sagt ein Spitzenmann im Rathaus, der ihn sehr gut kennt, »aber er hat nie vergessen, wer die 64 Prozent sind, die ihn gewählt haben.«
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Selbst beim wichtigsten Termin des Jahres, dem weltbekannten Anstich auf der Wiesn, lauert hinter dem jovialen Anzapfprofi noch ein ganz anderer Ude: einer, der sich akribisch vorbereitet und dem erkennbar die Muffe geht. Dieser Ude steht zwei Tage vor Wiesnstart in einer kleinen Einbauküche im sechsten Stock des Verwaltungsgebäudes der Paulaner-Brauerei, noch nie hat er sich dabei von einem Journalisten beobachten lassen. Vor dem OB und seinem Anzapftrainer Helmut Huber stehen drei Fässer. Eines enthält Luft, eines Wasser, das dritte schließlich Bier. Bei den ersten beiden kann man mehrmals probieren, beim dritten hat man nur eine Chance, weil das Bierfass unter Druck steht, und wenn das Bier einmal draußen ist, kehrt es nicht wieder zurück.
Ude lässt den Schlegel ein ums andere Mal auf den Wechsel krachen, bei der Luft geht alles gut, beim Wasser auch, wenngleich der Trainer mitunter sorgenvoll blickt. Er korrigiert den Schützling hier und dort, schiebt ihn näher ans Fass, gibt Tipps. Ude macht kleine Scherzchen, zeigt den mitgenommen wirkenden Schlegel, nennt ihn »sinnlos verstümmelt« und lacht dazu sein dröhnendes Ude-Lachen, das stets auch dazu dient, den Raum mit Selbstsicherheit zu füllen.
Ans Ende jedes Versuchs stellt Ude eine kleine Zeremonie, die zeigt, wie er sich
geradezu selbst-suggestiv auf den großen Moment hintrimmt. Er schlägt, einmal, zweimal, dreimal, dann stellt er sich stramm vors Fass, reckt den Schlegel in den Himmel, nein: nicht des Zeltes, sondern des kleinen Küchenraumes, und spricht vor sich hin eine Kurzfassung der berühmten Formel: »Ozapft is und so weiter.« Es ist eine kaum abgespeckte Kopie des Original-Anzapfauftritts. Einfach nur das Fass zu bearbeiten wäre zu wenig, auf das ganze Ritual kommt es an. Zu groß ist offenbar auch bei einem Öffentlichkeitsprofi wie Ude die Furcht, einmal den einen Fehler zu machen, der vielleicht verziehen würde, aber nicht vergessen.
Die Geschichte seines tragischen CSU-Vorvorgängers Erich Kiesl macht in München immer noch die Runde: Wie dieser nach dem Anzapfen vergaß, etwas zu sagen, und, als er sein Versäumnis bemerkte, ein »Izapft os« herausstammelte, womit sein Schicksal besiegelt war.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Unter dem Kanzleramt hätte er’s nicht gemacht«, sagt einer seiner Berater in vollem Ernst)
Die Dinge scheinen nun rund zu laufen. Die Luft- und Wasserproben sind beendet, Ude knöpft sich das Fass mit dem Bier vor – und das geht schief. Eine Fontäne jagt aus dem Fass heraus, Ude wird nass und bleich und stöhnt, er sei froh, dass in diesem Jahr nicht sein erster Wiesnauftritt ist. Denn sonst wäre er jetzt richtig nervös.
Dass Ude eine Sache richtig in die Hose geht, das scheint durch Naturgesetz ausgeschlossen zu sein. Kein Wunder, dass sich deshalb viele fragen: Wenn er schon so ein Glücksfall ist für München, warum beglückt er dann nicht die ganze Republik mit seinem Politikstil? Er wird das oft gefragt und winkt stets ab: »Ich habe das schönste Amt der Welt.« Und es kann gut sein, dass er, der Schwabinger, in dieser Frage in einem nicht lösbaren Dilemma steckt. Einerseits ist ihm München manchmal zu klein. Andererseits gibt es kein Leben außerhalb von München, zumindest kein lebenswertes. Seine Freunde verweisen darauf, dass er natürlich die Chance gehabt hätte, Minister in einer Bundesregierung zu werden. »Aber unter dem Kanzleramt hätte er’s nicht gemacht«, sagt einer seiner Berater in vollem Ernst.
Das Bild vom aufrechten, gelassenen und stets den richtigen Ton findenden Oberbürgermeister, der gegen alle Versuchungen des Politikbetriebs durch seine angeborene Selbstironie immun ist – es hat sich eingebrannt ins Münchner Selbstverständnis wie das Bild vom Mönch und seiner Kutte ins Stadtwappen. Wie macht er das? »Natürlich spielt er eine Rolle«, sagen seine Mitarbeiter. Aber gibt es dann irgendwo anders noch einen echten Ude? Einen, der nicht OB ist? Vom Privatleben Udes erfährt München seit Jahren immer nur dasselbe: Er hat seine Edith, neun Jahre älter als er, deren Kinder er mitgeheiratet hat. Er radelt, er verschwindet im Sommer stets nach Mykonos, er geht auch in München zum Griechen, und er liebt Katzen. Das war’s, das bringt einen nicht viel weiter.
Ganz sicher jedenfalls gibt es einen Ude, der von der Politik nicht lassen kann, der sie kühl plant, mitunter gar keinen Spaß ver-steht, der das Geschäft machtbewusst und eitel betreibt. Ude duldet keine anderen Götter neben sich – weniger aus Eifersucht, sondern vielmehr aus der Überzeugung heraus, dass es Gleichwertiges sowieso nicht gibt, zumindest nicht in München. Dieser andere Ude ist es, aus dem heraus im Gespräch auf einmal Sätze über Konkurrenten fallen, die so gar nicht Ude-like sind, Sätze wie: »Den mach ich so fertig, dass er in München nie wieder einen Fuß auf den Boden kriegt.« Man merkt: Auch unser brillanter, über den Dingen schwebender Ude ist bis zu einem gewissen Grad ein ganz normaler Politiker, der alle fiesen Tricks und Listen beherrscht und auch benutzt.
Er hat Niederlagen erlebt, zwei schlimme haben ihm die Münchner Bürger beigebracht, als sie ihn bei Volksabstimmungen dazu zwangen, die Stadtautobahn Mittlerer Ring zu untertunneln und Hochhäuser nicht höher zu bauen als die Türme der Frauenkirche. Diese Initiative hatte ausgerechnet sein Vorgänger Georg Kronawitter angeführt, das Verhältnis zwischen beiden ist frostig. Einen noch tieferen Blick in den Abgrund musste Ude ebenfalls Dank der eigenen Partei durchstehen; sie vermasselte ihm Ende der Acht-zigerjahre den Start in die Politkarriere gründlich. Mit SPD-Stimmen wurde damals der CSU-Mann Hans-Peter Uhl statt Ude in das wichtige Amt des Kreisverwaltungsreferenten, eine Art städtischer Innenminister, gewählt. Ude spricht nicht viel darüber, aber er hat das nicht vergessen.
Vielleicht sind es diese Erfahrungen, die Ude zu seinem Stil der Machtsicherung bewegt haben, den man sich am besten als Netz vorstellt, das immer wieder von Neuem geknüpft wird. In ihm arbeitet jeder mit jedem Hand in Hand an der guten Sache. Wo Ude ist, da trifft man immer dieselben Namen, und mit ihnen schmiedet Ude immer neue Bündnisse, mal gegen Rechtsextreme, mal für Wohnungsbau, mal gegen den Transrapid. Das läuft dann gern nach Art von »Bäumchen wechsel Dich!«
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: So hat das System Ude die Stadt fest im Griff, die macht aber keinerlei Anstalten, sich zu wehren, im Gegenteil)
Da gibt es Helmut Schmid, den mächtigen SPD-Fraktionschef im Rathaus, nicht ganz zufällig führt er zugleich den Münchner DGB. Oder Kurt Mühlhäuser, den Vorstandsvorsitzenden der finanziell äußerst potenten Münchner Stadtwerke, einer Rathaus-Tochter. Zugleich ist er Exchef und Ehrenvorsitzender des einflussreichen Münchner Mietervereins. So fügt es sich, dass SPD-Schmid und Stadtwerke-Mühlhäuser tagsüber mit Ude die Stadt verwalten und im Anschluss als DGB- und Mietervereinsfunktionäre zu einer Demonstration gegen den Transrapid aufrufen. Das freut dann Ude sehr, weil er von einem »weiteren Zeichen des machtvollen Protests der Münchner Bürgerschaft gegen den Transrapid« berichten kann.
Letztlich haben Ude und die seinen so auf München bezogen eine Durchdringung der Gesellschaft erreicht, wie sie sonst im Land nur der CSU gelingt. Das nutzt vielen, auch dem DGB und dem Mieterverein und nicht zuletzt natürlich den eigenen Mandatsträgern in der SPD-Rathausfraktion, denen all dies ein sicheres Auskommen ermöglicht. Obwohl es in ihr Leute gibt, die, wie ein Fraktionsmitglied sehr böse anmerkt, »klare Hartz-IV-Fälle« wären.
So hat das System Ude die Stadt fest im Griff, die macht aber keinerlei Anstalten, sich zu wehren, im Gegenteil: Sie genießt es, lässt sich gern führen und vergilt es dem OB mit Anbetung und guten Umfragewerten. Noch immer ist München stolz auf diesen Oberbürgermeister, der es so gut versteht, über allen seinen Taten die Aura des hohen moralischen Anspruchs und des sauberen Handwerks wehen zu lassen.
Fast schon ist es egal, ob Ude einen Geniestreich landet (wie das neue jüdische Zentrum in der Stadtmitte), ob er kräftig ins Schwimmen kommt (wie beim Bau des neuen Fußballstadions) oder ob er deutlich unter seinem Niveau bleibt (wie beim Protest gegen den Transrapid, den er als Thema für den Wahlkampf instrumentalisiert). Für die Wirkung beim Publikum ist die Hauptsache, dass auf allem derselbe Stempel prangt, auf dem steht: »Christian Ude«. Signale des Überdrusses gibt es, gemessen an 15 Jahren Amtszeit, nur wenige. Dazu trägt auch bei, dass die Münchner CSU als ernsthafte Konkurrenz noch immer nicht zur Verfügung steht.
Sie mag zwar ihre schlimmsten Intrigenzeiten hinter sich haben, aber um wirklich wählbar zu sein, wird sie noch Jahre solider Arbeit brauchen.
Wahrscheinlich kann sich einer, der so unangefochten ist, am Ende nur selber gefährlich werden. Vor Kurzem schien so ein Moment da zu sein, als er sich bei einem Wahlkampftermin ohne erkennbare Not zu den immer wieder aufflammenden Gerüchten erklärte, er sei schwul. Böswillig seien die, denn er sei »ein bekennender und praktizierender Hetero«. Seine Leute schlugen die Hände über dem Kopf zusammen – warum sich auf die Ebene von Getuschel begeben, ohne es stoppen zu können, sondern es dadurch eher noch zu befördern? Zumal, da es, wenn es so wäre, ihm noch nicht einmal schaden würde.
Doch da ist Ude eigen, wenn er sich im Recht fühlt und grundlos angegriffen, kann er dünnhäutig und rechthaberisch werden, so als ob sich der Journalist und der Anwalt in ihm zu einem Über-Rechthaber vereinigen würden. Weil er dabei vor allem auf Logik und intellektuelle Schlüssigkeit achtet, lässt Ude manchmal den Gefühlshaushalt seiner Gesprächspartner außer Acht – ein Punkt, mit dem er es noch zu tun bekommen könnte. Denn gerade unter den Parteifreunden gibt es einige, die von Ude auch einmal einen Schlag mitbekommen haben, den dieser weder bemerkt noch beabsichtigt hatte. »Da haben viele Rechnungen offen, von denen er vielleicht gar nichts weiß«, sagt einer seiner engsten Weggefährten.
Vom Wahlabend an beginnt das Ende der Ära Ude. Ein Mann, der nicht mehr wiedergewählt werden kann, weil er 2014 aus Altersgründen wirklich nicht mehr antreten dürfte, der seine Nachfolge bislang vernachlässigt hat – das ist eine Szenerie, in der viele Blut lecken werden. Die Rolle der sprichwörtlichen lahmen Ente wird auf Ude zukommen, doch der macht nicht den Eindruck, als ob ihm das Sorgen bereiten würde. Gefragt, ob ihm das Spektakel um den Abgang Edmund Stoibers auch Angst hinsichtlich des eigenen politischen Endes gemacht habe, antwortet
Ude mit einem Nein. Er fühle sich der Partei nahe und habe keine Anzeichen von Überdruss an seiner Person wahrgenommen.
Als ob alles in der Politik nach den Gesetzen der Logik oder gar der Dankbarkeit geschehen würde. Parteien sind grausam, das gilt auch für Udes Münchner SPD. Sie wird es ihren langjährigen Übervater nicht mehr vor der jetzigen Wahl spüren lassen. Aber vor der nächsten, 2014, ganz bestimmt.