In einem Artikel für die Fachzeitschrift Archives of Sexual Behavior beschreibt Michael C. Seto, Forschungsdirektor der Royal Ottawa Health Care Group, einige vernachlässigte Formen von sexueller Orientierung. Vor allem interessiert sich Seto für so genannte Chronophilien. Das sind sexuelle Orientierungen, die sich auf bestimmte Altersgruppen beziehen. Seiner Ansicht nach ist dies ein Forschungsgebiet, auf dem in Zukunft wichtige neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Besondere Aufmerksamkeit erregt haben seine Ausführungen über »Mesophilie«, ein Wort, das der Wissenschaftler neu geprägt hat: Es bedeutet, dass jemand sexuell interessiert ist an »Erwachsenen mittleren Alters, peri-menopausal oder peri-andropausal, von vierzig bis Ende fünfzig«, wobei »peri« so viel bedeutet wie »rundum«, und »andropausal«, dass Männer einfach alles nachmachen müssen.
Bisher ist die Mesophilie fast völlig unerforscht. Wie, zum Beispiel, sähe erotische Literatur für diese Zielgruppe aus? Abgesehen von Die Zeit? Möglicherweise folgendermaßen:
Sie erwachte aus einem leichten Dämmerschlaf und spürte seine Hand auf ihrem Knie, den Schatten seines massigen Körpers über sich. Sein nicht unterdrücktes Stöhnen drang an ihr Ohr, während er sich auf ihrem Knie abstützte, um über sie hinweg nach der Fernbedienung zu angeln, die zwischen dem Cordsofa und dem holländischen Mid-Century-Modern Couchtisch auf dem Boden liegen musste. Die Schlussmelodie des Tatorts spielte, und sie bemerkte, wie er seinen Körper anspannte, um an die aus ihrer müden Hand geglittene Fernbedienung zu gelangen.
»Schnell«, keuchte er, »das muss aus, das muss weg, bevor ›Anne Will‹ kommt, ich will das alles gar nicht sehen.« Sie schob ihn beiseite und merkte, wie ein leichter Hexenschuss in ihren Körper fuhr, verursacht durch das zu weiche Sofa und das Gewicht seines Körpers über ihr, ein wundervoller Schmerz, den sie für drei oder vier Tage ausnützen würde, um sich eines großen Teils ihrer privaten Verpflichtungen zu entledigen, und um im Büro das sanfte, duldende Antlitz einer Märtyrerin zu tragen.
Ihm entfuhr derweil ein tiefer Atem der Befriedigung, er hatte gefunden, was er brauchte, er wälzte sich zurück auf seine Sofahälfte und schenkte der Oberfläche des Fernsehbildschirms mit einer Bewegung seines Zeigefingers ein tiefes, samtenes Schwarz. Ein süßes Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung durchströmte sie.
»Wer war der Mörder?«, fragte sie und fuhr sich leicht über die Lippen in erregter Erwartung jener magischen Worte, die er ihr schon so viele Male gesagt hatte in dieser Situation.
»Der Gärtner«, raunte er. In der vertrauten Kunstpause, die er nun einlegte, gebar der Kosmos Universen der Sinnlichkeit. »Claus-Theo.«
Sie knuffte ihn in den Oberarm, und er nahm diesen Exzess der Körperlichkeit als Signal, den nächsten Schritt zu machen in einem Tango, der so alt war wie die Geschichte von Mann und Frau selbst, und älter in Wahrheit als jeder lateinamerikanische Standardtanz an sich. Da war es, das vertraute Ächzen. Mit der Entschlossenheit eines Mannes, dessen Vorfahren mit eigenen Händen den Tieren der Eiszeit das Leben abgerungen hatten, kämpfte er sich aus den Sofapolstern empor in eine vertikal nach oben in den Wohnraum gerichtete Körperhaltung. Seine kräftige, fast behaarte Stimme ritt auf den Wellen der Leidenschaft über die Sitzlandschaft zu ihr, und wie den Ruf des Fleisches in der Morgendämmerung der Menschheit vernahm sie, wie er für sich forderte und nahm, was er wollte: »Scheiße, ist das spät. Ich geh mal Zähneputzen.«
Illustration: Eugenia Loli