Es gab zwei bis drei große sexuelle Revolutionen in der Menschheitsgeschichte. Die erste war, als man entdeckte, dass man von Sex Kinder bekommen kann. Vorher wurde Sex nur dazu benutzt, die Höhlen zu heizen und die Säbelzahntiger fernzuhalten. Die zweite sexuelle Revolution fand angeblich in den Sechzigerjahren statt, führte aber nur dazu, dass Rainer Langhans, Beate Uhse und die Produzenten von Schulmädchenreport eine zeitlang ein Auskommen hatten.
Die dritte sexuelle Revolution steht nun unmittelbar bevor. Die Gegenwart ist geprägt von umfassender Selbstoptimierung: bessere Ernährung, mehr Sport, Gesundheitsbewusstsein. Das sind die Prinzipien, anhand derer der moderne Mensch sein Wohlbefinden bemisst. Der klassische Geschlechtsverkehr gilt hier bisher als ideales Ergänzungsmittel, quasi als eine Art Intimsport: 300 bis 400 Kalorien verbrenne man beim Sex, so hieß es bisher, den Wert also einer Tafel Schokolade, von der schon jemand anders zwei Rippen abgebrochen hat, so viel, wie man bei einer halben Stunde leichtem Joggen verbrennt oder bei dem Versuch, ein eingeschweißtes elektronisches Kleingerät aus seiner Verpackung zu lösen. Eine Menge also.
Regelmäßiger Sex, konnte man bis eben denken, passt ideal ins Lebenskonzept aller, die darauf aus sind, möglichst viele Kalorien am Tag zu verbrennen. Wissenschaftler aber, die sich die durchschnittliche Sexdauer und den durchschnittlichen Energieverbrauch dabei mal ehrlich angeschaut haben, sind nun auf eine völlig andere Zahl gekommen: beim durchschnittlichen Geschlechtsakt, der eher kurz und eher nicht so super wild ist, verbrennen wir etwa 21 Kalorien. Sex ist also viel näher am Nichtstun als an körperlicher Betätigung. Genauer gesagt: Beim Sex verbrennt man etwa so viel Kalorien, wie wenn man im Liegen Tagesschau guckt.
Zwar wird sich jetzt mancher, der, wie man früher in Illustriertenfortsetzungsromanen sagte, in flagranti ertappt wird, fast zu recht mit dem Ausruf »Es war nichts!« oder »Es ist nicht, wie es scheint!« rechtfertigen können. Rein rechnerisch war stoffwechseltechnisch ja wirklich praktisch nichts, und so sportlich wie es scheint, ist es ja auch nicht.
Wozu also Sex, wenn man Kinder schon hat oder nicht braucht, und wenn man sich bisher mit dem Gedanken an die verbrannten Kalorien dazu motiviert hat? Diese Frage zu beantworten, ist eine Herausforderung für die nächste sexuelle Revolution.
Zur Debatte stehen als neue Sex-Gründe:
1.) die dabei bei manchen Paaren angeblich entstehende und überwiegend als angenehm empfundene Nähe,
2.) Selbstbestätigung,
3.) na gut, wenn man schon mal da ist,
4.) jahreszeitlich bedingt,
5.) im Fernsehen nur ein Tatort aus Baden-Württemberg.
Illustration: Eugenia Loli