Zwar lässt sich die durchschnittliche Verweildauer auf einer Pornoseite exakt ermitteln, aber wie setzt sie sich zusammen, was ist die Dramaturgie der Ereignisse? Diese sieht nach neuesten Erkenntnissen aus wie folgt.
Gelangweiltes Anklicken des Alters-Checks, der einen daran hindern möchte, die Seite zu betreten, falls man unter achtzehn ist, mit ganz minimalen Sinnieren darüber, dass dies das pornographische Zugangsportal der letzte Ort der Welt ist, wo Ehrlichkeit von einem verlangt wird, ohne, dass sie überprüft wird; der letzte Ort also, an dem einem noch einfach so geglaubt wird: 2 Sekunden
Kurzes Verharren mit einer Mischung aus Ennui und Déjà-Vu, die man angesichts der immer gleich aufgebauten Startseiten mit ihrem Vorschaufenstern verspürt, unterwältigt von den dort präsentierten in Fleischgewittern: 2 Sekunden
Das Anschwellen einer leichten Depression beim Betrachten der immer gleichen Kategorien, die sich wie ein konstruktivistisches Gedicht in alphabetischer Reihenfolge vor einem aus dem Menü klappen, »Public«, »Redhead«, »Rimming«, »Romantic«, untermalt von einem kulturpessimistischen Basso-ostinato dicht oberhalb der Wahrnehmungsgrenze: 1 Sekunde
Abschweifen bei dem Gedanken, ob man genügend Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz seiner ungestörten Privatsphäre getroffen hat, im Real Life, nicht im Internet (ist die Tür zu?): 5 Sekunden
Paranoides Erschrecken aufgrund von rhythmischen Klatsch- und Schmatzgeräuschen, die man nicht zuordnen kann, und die auch nicht aufhören, als man verschiedene Tabs in seinem Browser schließt, bis man feststellt, dass sich eine animierte Porno-Anzeige in einem weiteren Browser-Fenster geöffnet hat: 10 Sekunden
Erfolglose biographische Spurensuche danach, was einen dazu treibt, Filme mit verheirateten Latinas jenen mit Cheerleaderinnen vorzuziehen: 7 Sekunden
Verärgertes Wegklicken neuer Pop-Up-Fenster: 15 Sekunden
Versuch, einem verheißungsvollen Link auf eine weitere Seite zu folgen, die jedoch nicht zu einem Filmchen, sondern zu immer neuen Seiten führt, hinter deren Vorschaufenstern ebenfalls nicht die angezeigten Filme, sondern immer neue, fast genau gleiche Seiten auftauchen, denen man weiter und weiter folgt, im wachsenden Bewusstsein der Vergeblichkeit des eigenen Tuns, irgendwo zwischen Kafka und Camus, mit schwindender Zuversicht: 140 Sekunden
Beim wütenden Schließen all dieser nutzlosen Seiten hängenbleiben an der, die zwangsläufig jedes Mal »MacKeeper« annonciert; sich fragen, ob man tatsächlich einmal, ganz am Anfang dieses so dringend sich selbst empfehlende und vernünftig klingende Festplattenreinigungsprogramm installiert hat oder nicht, und wenn ja, warum bloß? Und wird dafür eigentlich jeden Monat die Kreditkarte belastet? 45 Sekunden
Masturbation: 32 Sekunden
Im anschließenden post-orgiastischen »Animal-triste«-Zustand die Kommentare unter dem Video lesen, das man gerade angeschaut hat: 120 Sekunden
Insgesamt würden diese so erreichten 6 Minuten und 29 Sekunden auch genau ausreichen, um den Song »A Thousand Kisses Deep« von Leonard Cohen, »Flamingoes Fly« von Van Morrison oder »The Facts of Life« aus dem Spätwerk der Talking Heads zu hören. Statt-, nicht währenddessen.
Illustration: Sammy Slabbinck