Ganz unten

Wir stellen Ihnen jede Woche junge, talentierte Fotografen vor. Diesmal: Nurcan Özdemir, die türkische Transsexuelle im Istanbuler Ghetto begleitet hat.

Name: Nurcan Özdemir
Geboren: 10.Januar 1986
Ausbildung: Akademie für Mode und Design, München
Homepage: renegatxx.tumblr.com

SZ-Magazin: Frau Özdemir, Ihre Fotos von türkischen Transsexuellen geben Einblick in eine Szene am Rande der Gesellschaft. Diese Menschen leben ausgestoßen und von Männern und Frauen misstrauisch beäugt in einem Istanbuler Ghetto. Wie bekamen Sie so ungehinderten Zugang zu dieser Szene, dass sich die Transsexuellen sogar nackt fotografieren ließen?
Nurcan Özdemir: Es war wahnsinnig schwer. Von Deutschland aus hatte ich mindestens hundert Mails geschrieben und Telefonanrufe getätigt. Auch über Facebook, NGOs oder Gayromeo hatte ich versucht, Kontakt aufzunehmen. Erfolglos. Schließlich bin ich einfach nach Istanbul geflogen. Dort habe ich Friseursalons abgeklappert, bin jedoch nicht direkt ins Viertel der Transsexuellen gegangen – davon wurde mir von allen Seiten strengstens abgeraten. Es gilt als gefährlich, denn hier wohnen nur Menschen, die nichts zu verlieren haben: Junkies, Prostituierte, Verbrecher, Kurden und eben Transsexuelle. Über einen Friseursalon habe ich dann den Namen einer Transsexuellen bekommen. Der hat sehr geholfen. Als ich dann in einem zweiten Friseursalon in diesem Viertel stand, wurde ich wenigstens nicht attackiert. Nach etwa einer Stunde Reden schlug die Stimmung von Aggressivität in Offenheit um.

So offen, dass Sie ganz intime Fotos dieser Frauen machen konnten.
Das war das Wunderbare! Diese Menschen sind so gebeutelt und haben doch einen so liebevollen Kern! Nachdem sie Vertrauen zu mir gefasst hatten, durfte ich ihren Lebensmut und ihre Willenskraft erleben. Sie luden mich und die zweite Fotografin Sebnem Coskun in ihre heruntergekommenen Wohngemeinschaften ein, servierten Essen, und wir durften beobachten, wie sich sie für die Arbeit fertig machen.

Meistgelesen diese Woche:

Als was arbeiten die Frauen?
Neun von zehn gehen auf den Strich. Ich vermute, dass viele unter ihnen drogen- oder alkoholabhängig sind. Anders ließe sich ihr gefährlicher Alltag wohl kaum ertragen.

Weshalb leben Transsexuelle in der Türkei so gefährlich?
Türken hassen Transsexuelle, ihre Familien verstoßen sie. Täglich werden sie auf der Straße verspottet, diskriminiert oder mit irgendwelchen Sachen beworfen. Polizisten schikanieren sie bei Festnahmen aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen wie „Erregung öffentlichen Ärgernisses". Am größten ist aber die Gefahr durch gewalttätige Sexkunden. Viele sterben oder werden verletzt, weil einige Männer nach vollzogenem Akt auf sie losgehen - aus Selbsthass, dass sie Sex mit einer von ihnen hatten.

Aus Selbsthass?
Ja, die besten Kunden sind schwule Familienväter. Psychologisch gesehen eine sehr komplizierte Geschichte. Deshalb haben die Transsexuellen übrigens auch meistens Brüste und einen Penis - und lassen sich bewusst nicht umoperieren. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass viele der Frauen, die ich fotografiert habe, ursprünglich gar keine Frau sein wollten - sondern nur offen schwul. Viele sind aus dem konservativen Osten des Landes geflüchtet, wo die religiöse Patriachalgesellschaft sie in die Transsexualität trieb, noch bevor sie in Istanbul die Freiheit finden konnten.

Sie fotografieren schwarz-weiß. Warum?
Die Persönlichkeit, die Gesichter, aber auch die Narben der Menschen sollten im Mittelpunkt der Bilder stehen. Von ihrem Schicksal hätten die bunten Straßen Istanbuls nur abgelenkt.

Fotos: Nurcan Özdemir