Leichter als Luft

Novy Urengoy wurde am Reißbrett für die Arbeiter der Erdgas-Firmen entworfen. Der Sommer dauert dort gerade einmal 35 Tage. Den Rest des Jahres versinkt die Stadt in tiefem Schnee. Yanina Shevchenko hat das Leben dort dokumentiert.


Name:
Yanina Shevchenko
Alter: 03.10.1986
Wohnort: Barcelona
Website: yaninashevchenko.com
Ausbildung: Abschluss von der Goldsmiths Universität London und von der Akademie der Fotografie in Moskau

SZ-Magazin: Novy Urengoy liegt in West Sibirien, nur 60 Kilometer südlich vom Polarkreis entfernt. War es schwer, dort hinzukommen?
Yanina Shevchenko: Ehrlich gesagt, war es sogar ziemlich einfach. Ich bin dort geboren und habe bis ich fünf Jahre alt war dort gelebt. Ich war also nicht zum ersten Mal dort, auch wenn meine Erinnerungen mir mehr wie ein Traum vorkommen. Novy Urengoy ist immer noch die Hauptstadt des Gases, hier wird so viel Gas gefördert, wie nirgendwo sonst in Russland. Es gibt einen Direktflug von Moskau, und die Stadt ist besser angebunden als viele andere große Städte im Land. Das Lustige ist, die Menschen, die in Novy Urgengoy leben, sehen den Rest Russlands als eine Art Festland und sich selbst als die Bewohner einer weitentfernten Insel, die nicht mit dem Festland verbunden ist. Obwohl das natürlich nicht stimmt.

Wo findet denn das alltägliche Leben der Bewohner statt, wenn es draußen bis zu 40 Grad minus hat? Das war eines der Dinge, die mich überrascht haben. Wenn die Eltern tagsüber zur Arbeit gehen, sieht man viele Kinder draußen im Schnee spielen. Ich denke, wenn man in so einer Umgebung aufwächst, gewöhnt man sich einfach an die Wetterverhältnisse. Ich würde nicht sagen, dass alle Einwohner immer auf den Straßen waren, aber die Stadt war auf jeden Fall sichtbar. Ich hatte mir eigentlich das genaue Gegenteil vorgestellt: dass es so kalt ist, dass man am liebsten einfach nur zu Hause bleiben möchte. Aber die Stadt bietet viele Aktivitäten an. Es gibt Fußball-Clubs, Schwimmbäder, Wintergärten – vieles davon gesponsert von den Gas-Firmen und der Regierung, um die Leute vor Ort bei Laune zu halten.

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Die Bewohner profitieren also direkt von den Erträgen der Erdgas-Industrie?
Ja, die Leute arbeiten zwar auch hart, aber sie bekommen einen guten Lohn. Sie können es sich leisten, Urlaub in wärmeren Gegenden zu machen. Ich habe in Russland noch nie so viele gute Autos in einer Stadt gesehen, wie in Novy Urengoy. Wenn man beispielsweise nach Moskau fährt, sieht man eine Menge Ungleichheit. Es gibt wenige reiche Leute, und eine Menge Obdachlose. In Novy Urengoy scheint es ausgeglichener. Wenn man dort keinen guten Job hat, gibt es keinen Grund dort zu bleiben.

Welches Bild hat sich bei Ihnen von dieser Stadt eingeprägt?
Es ist wirklich so, wie viele Ausländer sich Russland vorstellen. Alles ist voller Schnee, und die meisten der Gebäude sind pastellfarben angestrichen, wie in einem russischen Märchen. Ich denke, das wurde auch ganz bewusst gemacht. Es gibt dort so wenig Vegetation, dass es einfach an Farben fehlt. Russische Architektur ist immer noch sehr schlicht und nüchtern, die Farben bringen eine gewisse Fröhlichkeit.

Hatten Sie das Gefühl, dass die Spannungen zwischen Europa und Russland oder die Krim-Krise die Menschen dort beunruhigen?
Ich hatte mehr das Gefühl, dass die Leute dort denken: Was auch immer politisch passiert, das Gas wird weiter produziert, bis die Vorräte irgendwann erschöpft sind. Natürlich verkomplizieren solche Konflikte vieles, aber ich hatte wirklich nicht das Gefühl, dass die Bewohner sich auf Grund der politischen Situation bedroht fühlen. In Russland war es schon immer kompliziert, wir sind das inzwischen gewohnt.

Einige Forscher gehen davon aus, dass die weltweiten Erdgas-Ressourcen in etwa 60 Jahren erschöpft sein werden. Was denken Sie, wird dann mit Novy Urengoy passieren? Die Stadt wurde entworfen, nachdem Geologen in der Umgebung Erdgas entdeckt haben. Sie wurde also nur aus einem Grund erbaut und die Gasforderung ist das Hauptarbeitsfeld der meisten Bewohner. Ich denke nicht, dass viele Menschen sich dafür entscheiden würden, dort zu bleiben, wenn es im Gas-Sektor nichts mehr zu tun gibt.

Fotos: Yanina Shevchenko