Fasst man im Alter noch gute Vorsätze?

Unsere Senioren-Kolumnistin hat einen wichtigen: Sie will nicht mehr streiten – und das hat sowohl mit Lebenserfahrung als auch mit ihrem Alter zu tun.

Illustration: Nishant Choksi

In ein paar Tagen lebe ich im Jahr 2019. Ich kann diese Zahl fast nicht glauben. Hätte man mir in meiner Jugend gesagt, dass ich im Jahr 2019 noch leben würde, hätte ich kurz aufgelacht und mir dann Urlaube mit fliegenden Autos vorgestellt. Selbst das Jahr 2000 schien damals unerreichbar und wie aus einer fernen Zukunft. Das ist jetzt schon fast 20 Jahre her. Und ein fliegendes Auto habe ich auch noch nicht in der Garage.

Zwei Dinge, die man beim Älterwerden lernt, sind, dass Zeit umso schneller verfliegt, je älter man wird, und dass an Silvester zu viele Erwartungen geknüpft sind. Ich habe dieses Fest nun schon fast 80 Mal gefeiert, davon vermutlich 76 Mal bewusst. Ich habe also viele, viele Freunde und Bekannte gute Vorsätze fassen und sie etwa fünf Minuten bis eine Woche später wieder brechen sehen.

Allein die Sache mit dem Rauchen. Früher rauchte ja jeder in meinem Freundeskreis, ich inklusive. Es war sehr schick, auch die gesundheitlichen Folgen waren in ihrem Ausmaß noch gar nicht bekannt. In den Fernsehwerbungen für Zigaretten rannten Kinder zu ihren fröhlich im Wohnzimmer rauchenden Eltern. Als sich das änderte, es ein immer größeres Bewusstsein für Raucherlungen, Krebs und Impotenz gab, versuchten natürlich viele aufzuhören. Kurz nach Mitternacht steckten sie sich dann wieder angeheitert eine Zigarette an.

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Ich habe mit dem Rauchen aufgehört, aber ganz sicher nicht an Silvester. Ich glaube nämlich nicht daran, dass allein ein äußerer Anlass einem hilft, sein eingespieltes Verhalten zu ändern – besonders wenn es um eine Sucht geht. Man muss es so sehr wollen. Lange Zeit kokettierte ich mit meiner Lust aufs Rauchen, sagte Dinge wie »Einen Krückstock braucht der Mensch« – also ein Laster, das man ausleben kann, wenn man keine Lust hat, sich immer korrekt und lieb und gut zu verhalten. Ein bisschen verruchtes Leben muss sein.

Vor 20 Jahren stellte mir ein Arzt die Diagnose, dass sich meine Augenerkrankung früher verschlechtern würde, solange ich weiterrauche. Ich ging nach Hause und schmiss meine Zigarettenpackung in den Hausmüll. Ich werde doch nicht schneller blind, nur um rauchen zu können. Ab diesem Moment wollte ich es wirklich – und schaffte es auch, obwohl der Entzug wirklich, wirklich unangenehm ist.

Doch woher kommen all die guten Vorsätze an Silvester, wenn doch klar ist, dass man sie so schnell wieder bricht? Ich kann es mir nur so erklären, dass ich mich selbst an meinem eigenen Verhalten oft störe. Mit sich selbst verbringt man ja am allermeisten Zeit und ich ärgere mich sehr darüber, wie oft ich mich in meinem Leben falsch verhalte. Ich habe in meinem Gehirn dafür eine kleine Bibliothek mit dem Namen »Fehltritte seit meiner Geburt«. Dort liegen Erinnerungen, die ich wie Videos in meinem Kopf immer wieder abspielen kann.

Am schlimmsten sind für mich die Erinnerungen, wenn ich zu wenig Geduld bei der Pflege meines alzheimerkranken Mannes hatte. Ich kann mich mit den Gedanken quälen. Einmal wollte er sich von mir nicht im Rollstuhl schieben lassen, obwohl ich dringend einkaufen gehen musste, er stellte seine Beine immer wieder auf den Boden, um den Rollstuhl zu bremsen, ich weinte und schrie, dass ich nicht mehr kann und nicht mehr weiter weiß und dass mir alles zu viel wird. Ich weiß, dass ich überfordert war nach der monatelangen Pflege, ich weiß, dass er nicht mehr er selbst war, aber allein diese eine Erinnerung ist schlimm für mich. Überhaupt liegen in dem Archiv meiner schlechten Erinnerungen fast nur Momente, die mit Streit zu tun hatten. Augenblicke, in denen ich laut wurde gegenüber Menschen, die mir eigentlich sehr wichtig sind.

Wenn es eine Sache gibt, die ich in meinem Leben nicht mehr haben möchte, dann ist es Streit. Ich weiß, dass es nicht gut ist, wenn Wut sich aufstaut. Aber wenn ich all die Meinungsverschiedenheiten in meinem Leben durchgehe, war der Anlass nie die Konsequenz wert. In vielen Fällen erinnere ich mich sogar nicht mehr daran, was den Streit eigentlich ausgelöst hat, sondern nur noch daran, wie sehr mich dessen Folgen belastet haben. Und das sagt eigentlich auch schon alles.

Ich weiß, dass es sehr unrealistisch wäre, mir deswegen vorzunehmen, dass ich nie wieder laut werde. Das wäre ähnlich zum Scheitern verurteilt wie all die Vorsätze, nicht mehr zu rauchen, 15 Kilo abzunehmen und fünf Mal die Woche Sport zu machen. Ich bin ein impulsiver Mensch und finde es von Grund auf falsch, Wut in sich hineinzufressen.

Aber gerade weil Vorsätze so schwer umzusetzen sind, habe ich mir überlegt, ob es eine ganz konkrete Möglichkeit gibt, mein Ziel doch noch zu erreichen. Und ich hoffe, ich habe eine Lösung gefunden. Ich will weiterhin meine Meinung sagen, will auch weiterhin, dass Menschen ehrlich zu mir sind und der Konfrontation nicht ausweichen – aber ich werde nicht mehr im Streit mit Menschen auseinandergehen. Das ist ein machbares Ziel. Das nächste Mal, wenn etwas schief läuft, nicht aus der Situation zu stürmen, sondern zu bleiben und zu reden. Solange, bis all die Wut verpufft ist und man darüber reden kann, was vielleicht der eigentliche Grund ist, warum man verletzt oder impulsiv reagiert hat.

Ich will es schaffen. Ich will bei keinem meiner Bekannten denken müssen, dass es noch ungeklärte Konflikte gibt. Ich fürchte, dieser Wunsch hängt auch sehr mit meinem Alter zusammen. Was wäre, falls ich doch plötzlich sterbe? Wie unnötig wäre es, dass auch nur ein Mensch dann bereuen muss, was er als letztes zu mir gesagt hat. Das gleiche gilt für mich. Ich will gehen können, ohne zu bereuen.

Ich werde dieses Silvester entspannt angehen. Früher zog ich mich schick an, ich war nie der Typ Discokugel (also Paillettenkleid), sondern trug zum Beispiel gerne einen dunkelblauen Rock mit hohem Schlitz. Dieses Jahr wird es wohl eine Jogginghose sein. Ich werde mir im Fernsehen »Dinner for One« anschauen. (Übrigens auch ein Phänomen für sich. Der Film lief zum ersten Mal im Jahr 1963, ich habe ihn seitdem jedes Jahr gesehen und lache immer noch, wenn der Butler aus der Blumenvase trinkt). Wenn die Kirchenglocken läuten und die Raketen zischen, freue ich mich auf meine Zukunft als süddeutscher Dalai Lama. Diesen einen Vorsatz werde ich nicht brechen. Ich will ihn zu sehr und ich weiß, was auf dem Spiel steht: Liebe. Und damit mein ganzes Glück.