SZ-Magazin: Der Dichter Durs Grünbein hat einmal gesagt: »Der Dichter fühlt sich gekränkt beim Anblick des Popstars.« Ist es sehr schlimm, Herr Lentz?
Michael Lentz: Also, ich fühle mich überhaupt nicht gekränkt.
Jan Delay: Der Satz ist ja auch Unsinn. Gekränkt kann man sein angesichts eines Werkes oder Textes, aber so, wie Sie ihn zitiert haben, bezieht sich die Kränkung nur auf die Prominenz des Popstars.
Lentz: Den Satz kann man auf zwei Arten verstehen. Erstens: Der Dichter fühlt sich gedemütigt durch die Prominenz des Popstars. Zweitens: Der Dichter ist gekränkt, weil der Popstar das Wahre, Schöne und Gute der Kunst zerstört oder verwässert. Mit so einer elitären Haltung habe ich aber nichts am Hut. Für mich ist die deutsche Sprache ein Speicher, der ständig neu gefüttert werden muss, auch mit Popkultur, alles andere wäre engstirnig.
Wer hat gerade den größeren Einfluss auf die deutsche Sprache: die klassische Literatur oder die Hip-Hop-Kultur?
Lentz: Ganz klar die Popkultur. Die Literatur ist ein viel zu starres Medium. Sie ist zwischen zwei Buchdeckel gepresst, man ist allein, wenn man liest. Die Lesesituation ist asozial, da entsteht wenig gesellschaftliche Kraft. Dafür hat man als Schriftsteller den Vorteil, in einem angenehmen Sinne konservativ sein zu können. Das Schreiben muss nicht sofort umgemünzt werden in ein bestimmtes Verständnis von Gegenwart.
Delay: Was heißt das?
Lentz: Dass einem Dichter zugebilligt wird, dass er nicht auf alles gleich reagieren muss. Nehmen Sie den 11. September oder den Fall Amstetten. Da schreien die Medien nach uns, damit wir Erklärungen abliefern, aber das Schreiben von Literatur ist ein langwierigerer und komplexerer Prozess als das Schreiben eines Songs.
Aber verliert die Literatur dadurch nicht an Relevanz?
Lentz: Nicht unbedingt. Es geht ja auch um Nachhaltigkeit, um das Denken in größeren Zusammenhängen. Und da kommt die Literatur ins Spiel, die oft im Nachhinein zeigen kann, dass die Signatur einer bestimmten Zeit ganz anders war als eigentlich angenommen.
Delay: Das heißt aber auch, dass der direkte Einfluss der Popkultur auf die Gesellschaft viel größer ist. Das Sprachverständnis eines 14-Jährigen hat sich durch die Popkultur doch komplett gewandelt.
Lentz: Ihre Texte kommen bei den jungen Menschen da draußen sicher besser an als meine Anagramme. Aber darauf darf ich keine Rücksicht nehmen, sonst würde ich nach Zielgruppen arbeiten, und das wäre der Tod der Kunst. Es gibt nur ganz wenige, die ihrem Idiom treu bleiben und trotzdem die Massen erreichen. Herbert Grönemeyer wäre ein Beispiel.
Ihre Zielgruppe, Jan Delay, ist eindeutig definiert: junge Menschen. Spüren Sie beim Schreiben Ihrer Liedtexte eine bestimmte Verantwortung?
Delay: Beim Schreiben nicht. Aber so lehrermäßig das jetzt auch klingen mag, ich spüre schon eine Verantwortung, wenn ich zwei Zwölfjährige auf der Straße miteinander sprechen höre, die in einer komplett artikelbefreiten Sprache miteinander reden, nur damit sie klingen wie die coolen Türken in ihrer Straße. »Gehen wir McDonald’s …«
Delay: Genau. Wenn ich selbst Kinder hätte, würde ich sagen: Zuerst lernt ihr bitte, wie man grammatikalisch richtig schreibt, und wenn ihr das draufhabt, dann könnt ihr reden, wie ihr wollt.
Ganz schön konservativ.
Delay: Die Grundvoraussetzungen müssen eben stimmen. Ich will ja nicht, dass mein Sohn eines Tages zum Vorstellungsgespräch geht und sagt: »Digger, weißte, ich dachte, ich komm hier mal wegen Kohle vorbei und so.«
Lentz: Das Problematische daran ist, dass viele dieser Ausdrücke vollkommen automatisiert gebraucht werden. Da wird schnell jemand als »schwul« bezeichnet, ohne dass der Sprecher weiß, was das eigentlich heißt. Aber Sie sind noch auf ganz andere Art und Weise konservativ: Sie verwenden in Ihren Texten jede Menge sprachlicher Mittel, die es in der Literatur seit Jahrhunderten gibt: Alliterationen zum Beispiel, Anaphern, Assonanzen.
Delay: Mit diesen Fremdwörtern kenne ich mich nicht aus, aber ich ahne, was Sie meinen. Wir Rapper sind auf Sprach- und Wortspiele aus. An guten Zeilen und interessanten Reimen feilen wir stundenlang.
In der Lyrik wurde der Reim Ende des 19. Jahrhunderts auf einmal verdächtig. Er galt als altbacken und limitierend. Für den Hip-Hop gilt das gar nicht. Sie reimen »miese Schlampe« auf »Energiesparlampe« und »Pinienwälder« auf »Minenfelder«.
Delay: Ich suche Reime, die noch niemand gehört hat, die unverbraucht sind.
Wären Sie ohne das Reimschema nicht viel freier in Ihren Aussagen?
Delay: Vielleicht, aber so sind nun mal die Regeln. Man lässt ja beim Fußball auch nicht den Ball weg, damit man schneller laufen kann.
Gibt es Reime, die so klischeehaft sind, dass sie absolut zu vermeiden sind?
Delay: Klar: Party [Pardy] auf Bacardi, das geht seit zwanzig Jahren nicht mehr.
Wir hatten eher an Herz und Schmerz gedacht.
Lentz: Ich halte keinen Reim für so verbraucht, dass man ihn vermeiden muss. Selbst Herz auf Schmerz kann man verwenden, wenn der Kontext überraschend ist. Obwohl, Peter Rühmkorf hat gesagt: »Der Erste, der Herz auf Schmerz gereimt hat, war ein Genie, der Zweite ein Idiot.«
Die deutsche Sprache hat den Ruf, sperrig und ungelenk zu sein. Was für ein Verhältnis haben Sie zu ihr?
Lentz: Ich verspüre eine tiefe Liebe zu ihr. Leider hat mir diese Liebe den unbefangenen Zugang zu anderen Sprachen verstellt. Ich falle immer ganz schnell zurück ins Deutsche. Ich mag, dass die deutsche Sprache so viele Differenzierungsmöglichkeiten hat, das entspricht meiner Mentalität, Dinge genau zu benennen. Der Amerikaner sagt immer: »I am sad.« Der Deutsche will es genau wissen: Ist er jetzt traurig oder deprimiert oder niedergeschlagen oder wehmütig oder sentimental?
Woher kommt diese Liebe zum Deutschen?
Lentz: Ich war früh fasziniert von den Bausteinen der deutschen Sprache, von ihrer Struktur, ihrer Grammatik. Ich habe die Philosophen gelesen, Kant, Schopenhauer, zwei absolute Meister der deutschen Sprache. Dann das deutsche Liedgut, Schuberts und Wilhelm Müllers Winterreise, unfassbar. Die deutsche Sprache wurde lange gleichgesetzt mit einem Herrschaftsinstrument. Genau davon hat sie sich in den letzten 25 Jahren befreit, dank der Popmusik. Die deutschen Liedermacher früher waren schrecklich, heute ist die deutsche Sprache emanzipiert, der deutsche Popsong ist absoluter Standard.
Delay: Sperrig oder ungelenk, das war mir immer egal. Als ich 1991 mit dem Rappen anfing, wollten meine Kumpels, dass ich englisch singe. Das fand ich aber doof. Damals wie heute empfinde ich für die deutsche Sprache nichts als Liebe, in ihr fühle ich mich zu Hause, es ist die Sprache, die ich als Kleinkind gelernt habe. Klar kann ich so tun, als könnte ich Englisch, aber am Ende hab ich es halt doch nicht perfekt drauf. Ich denke nicht englisch, ich träume nicht englisch, ich spreche nicht zu englischen Menschen – warum sollte ich auf Englisch rappen?
Lentz: Außerdem hat sich die deutsche Sprache in den letzten zwanzig Jahren entsperrt. Durch englische Begriffe, durch Mundart und Dialekte. Wir gehen viel freier mit diesen Dingen um, früher kam da immer gleich die Sprachpolizei. Delay: Genau das finde ich toll am deutschen Hip-Hop: dass er immer einen regionalen Bezug hat. Wenn jemand gut rappt, sollte man vom Dialekt und den Slang-Ausdrücken her nach zwei bis drei Zeilen wissen, wo er herkommt und wofür er steht. Ich sage »Digger«, also bin ich aus Hamburg.
In München sagen auch alle »Digger«.
Delay: Die haben das von uns übernommen, das stimmt schon. Aber in München sagen sie zum Beispiel nicht »Alder«, sondern »Oider«. Und in Berlin sagen sie »Alter« oder »Dicker«, so richtig berlinert mit Betonung auf dem t und dem ck. Sie verwenden auch englische Vokabeln wie »style« oder »fresh«.
Delay: Warum nicht? In der Fernsehwerbung ist jedes dritte Wort ein Anglizismus. Und so was wie »style« lässt sich eben nicht mit »Stil« übersetzen, »style« meint mehr, Haltung eben. Ich texte, wie die Menschen auf der Straße sprechen. Das habe ich von Udo Lindenberg gelernt, er war der Erste, der das perfekt gemacht hat.
Lentz: Deswegen können Sie auch Begriffe verwenden, die in meinen Gedichten nie vorkommen können: »Champions League«, »Beats« oder »Ed Hardy«.
Aber niemand hindert Sie daran, solche Wörter auch in Ihre Gedichte zu packen.
Lentz: Doch, als Lyriker verspüre ich komischerweise eine Art Reinheitsgebot. Ich will die Sprache rein halten, ich versuche, einfache Worte zu finden, ein klares, reduziertes Deutsch. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mache das so, andere Dichter und Schriftsteller machen es anders. Und an gute Hip-Hop-Texte habe ich den Anspruch, dass sie absolut disparate Dinge zusammenbringen, eben wie »Heroin« und »Töpperwien« bei Jan Delay.
Sie unterrichten am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bemerken Sie an den Manuskripten der Studenten auch diesen Einfluss der Popkultur?
Lentz: Bei einigen schon. Ich suche die Manuskripte immer nach Quellen durch, ganz automatisch. Ist das autobiografisch? Hat da einer zu viel Hemingway gelesen? Aber manchmal komme ich nicht weiter, da muss ich mir dann die Frage stellen: Was hört der oder die wohl für Musik? Und weniger: Was hat der oder die alles gelesen?
Lassen Sie sich beim Texten von Literatur beeinflussen, Jan Delay?
Delay: Nein. Eine Songzeile von mir geht so: »Ich lese nicht viel außer MoPo und SMS.« Da ist was dran. Außer im Urlaub, da lese ich schon, meistens Biografien von Musikern und Terroristen. Früher habe ich auch sogenannte richtige Literatur gelesen: Erich Fried fand ich derbe, Robert Gernhardt, auch Georg Büchner.
Wie stark haben neue Kommunikationsformate wie SMS oder E-Mails das Deutsche verändert?
Lentz: Es gibt ja längst SMS-Lyrik, und E-Mail-Romane sind in Arbeit. Muss man ausprobieren, aber meine Sache ist es nicht. Privat lasse ich mich von den 160 Zeichen nicht in die Knie zwingen, ich schreibe auch mit dem Telefon Romane und achte auf korrekte Zeichensetzung. Manchmal sehe ich beim Durchlesen einer SMS, dass ein Buchstabe aus Versehen klein geschrieben ist. Dann muss ich das korrigieren, ich kann einfach nicht anders.
Delay: Bei mir ist es genau umgekehrt. Meine Sprache verkrüppelt zunehmend. Ich schreibe alles klein, und Zeichen setze ich auch keine mehr.
Lentz: Das kann zu den größten Missverständnissen führen.
Delay: Glauben Sie mir, in den Kreisen, in denen ich SMS verschicke, nimmt mir das keiner übel.
Jan Delay, 32, heißt eigentlich Jan Philip Eißfeldt und ist einer der erfolgreichsten deutschen Hip-Hopper und Funk-Musiker. Sein letztes Soloalbum "Mercedes Dance" belegte Platz eins der deutschen Charts, sein neues trägt den Titel Wir Kinder vom Bahnhof Soul und erscheint Mitte August.
Michael Lentz, 45, ist deutscher Schriftsteller, Dichter und Lautpoet. Im Jahr 2001 gewann er den renommierten Bachmann-Preis, seit 2006 unterrichtet er Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman "Pazifik Exil" erscheint gerade als Taschenbuch.
Dominik Butzmann (Foto)