Philosophieren mit Marlon Brando
Als ich Ende der Fünfzigerjahre nach Hollywood kam, konnte ich kein Wort Englisch. Mein Vater hatte immer gesagt: »Englisch? Das wirst du nie brauchen, außer du möchtest Shakespeare im Original lesen. Lern lieber Griechisch.« Bei den ersten Dreharbeiten mit Marlon sollte ich sagen: »I should have shot you for what you have done!« Aber anstatt »shot you« sagte ich »coot you«, und alle am Set haben mich ausgelacht. Erst bekam Marlon einen Lachkrampf, dann ich.
Irgendwann hat Marlon mich zu sich nach Hause eingeladen, er schmiss eine Party. Das war sehr nett von ihm, denn ich kannte ja niemanden in Los Angeles. Er fragte, ob er mir eine Begleitung für den Abend besorgen sollte, und ich nickte etwas schüchtern. Dann zückte er sein schwarzes Notizbüchlein und fragte nach meiner Präferenz: eher asiatisch oder doch lieber amerikanisch-europäisch? Ich antwortete ihm, das sei mir nicht so wichtig.
Am Abend saß dann eine junge Asiatin neben mir, aber ich konnte mich nicht mit ihr unterhalten. Auch sie sprach kaum ein Wort Englisch. Als mich Marlon fragte, wie ich sie finde, sagte ich, dass mir seine Freundin Anna viel besser gefalle. Plötzlich wurden alle Gäste still. Majestätsbeleidigung! Niemand sagte ein Wort, alle blickten zu Marlon. Das war ein unangenehmer Moment. Aber Marlon blickte mich nur an, lächelte und sagte: »Max, es ist noch früh. Warum gehen wir nicht spazieren?« Wir ließen also die Gesellschaft allein am Tisch zurück, setzten uns in sein Auto und fuhren zum Ocean Park nach Santa Monica.
Wir redeten über Hollywood, über griechische und indische Philosophie, natürlich auch über Frauen – und als wir gegen zwei Uhr wieder bei ihm zu Hause waren, schenkte er mir dieses Buch. Als Widmung schrieb er: »Maybe thinking is better than fucking – I should have coot you!« Mehr als dreißig Jahre später spielten Marlon und ich wieder in einem Film zusammen, Freshman von Andrew Bergman. Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen, und er sagte zu mir: »Max, ich bin nur ein Schauspieler, du aber bist ein Weltstar!« Ich schluckte. Ich habe mich nie als Weltstar gesehen, und diese Worte aus seinem Mund zu hören – das machte mich schon etwas verlegen.
Marlene und Angelina
Eine Nacht mit Marlene Dietrich
Meine erste Begegnung mit Marlene werde ich nie vergessen. 1957, ich drehte gerade mit Marlon Brando Die jungen Löwen und wohnte in einem Hotel am Sunset Boulevard. Der Portier rief an: »Herr Schell, hier steht eine Frau Dietrich in der Lobby. Sie will zu Ihnen. Soll ich sie abwimmeln?« Ich antwortete: »Die Dietrich? In der Lobby? Nein, schicken Sie sie rauf.«
Als ich die Tür öffnete, stand Marlene mit einem Kochtopf vor mir. Sie kannte mich nicht, hatte aber Eintopf mitgebracht. Ich hasse Eintopf. Trotzdem haben wir mehr als sieben Stunden geredet. Natürlich hatte ich sie im Blauen Engel gesehen, fand sie großartig, ich wusste aber auch, dass sie eine Neigung für Frauen hatte. Also fragte ich sehr direkt: »Marlene, wie funktioniert das eigentlich zwischen zwei Frauen?« Und sie antwortete offen: »Da liegt man halt aufeinander und fummelt.«
Nachdem sie mich in Das Urteil von Nürnberg gesehen hatte, schickte sie mir eine kurze Notiz (s. oben). Warum sie mich »my German face« nannte? Ich weiß es nicht. 1984 habe ich einen Film über sie gedreht, der für den Oscar nominiert wurde. Sie ließ nur Tonaufnahmen zu, sagte auf Englisch zu mir: »I’ve been photographed to death my whole life. That’s enough!« Im Grunde ist sie mir immer fremd geblieben.
Jedermann
Seltsam, aber mein Name wird oft nur mit bekannten Hollywoodproduktionen wie Das Urteil von Nürnberg, Peter der Große oder auch Topkapi in Verbindung gebracht.
Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen wissen vielleicht gar nicht, dass ich zum Beispiel Ende der Fünfzigerjahre in einer von Gustaf Gründgens legendären Inszenierungen am Hamburger Schauspielhaus den Hamlet spielte oder ab 1978 fünf Jahre die Rolle des Jedermann bei den Salzburger Festspielen. Ende August feierte Salzburg »90 Jahre Jedermann«, ich war eingeladen – und der Burgtheater-Schauspieler Nicholas Ofczarek, der den Jedermann zurzeit spielt, ging vor mir auf die Knie. Eine wunderbare Geste, die ich ihm nie vergessen werde.
Mein Patenkind Angelina Jolie
Auf dem Foto halte ich die kleine Angelina Jolie im Arm. Ich bin ihr Taufpate, ich glaube, das wissen viele gar nicht. Sie wurde im Juni 1975 geboren, da hatte ihr Vater, der Schauspieler Jon Voight, gerade in meiner Dürrenmatt-Verfilmung Der Richter und sein Henker die Hauptrolle gespielt. Er und seine Frau Marcheline Bertrand fragten mich, ich freute mich und sagte zu.
Heute habe ich keinen Kontakt mehr zu Angelina. Das letzte Mal haben wir uns vor 18 Jahren gesehen, da war sie 17. Ich bot ihr damals die Rolle der Ophelia in Hamlet Reloaded an. Sie sagte begeistert zu. Aber der Film kam nicht zustande, die Sache verlief sich; mal rief sie an, und ich war nicht da, mal rief ich an, und sie war nicht da. Wie das halt so ist, irgendwann geht ein Agent ans Telefon, und dann ist es aus. Ich habe sie immer wieder auf meine Alm nach Österreich eingeladen, mit Brad Pitt und den Kindern, aber sie hat nie Zeit.
Neulich habe ich einen letzten Versuch unternommen: Sie drehte in Venedig mit Florian Henckel von Donnersmarck, ich wollte hinfahren und sie überraschen, aber dann traute ich mich nicht: Sie ist so berühmt, ein Weltstar, wie Leonardo DiCaprio oder George Clooney. Sie kommt mir so weit weg vor, als lebte sie in einer anderen Welt. Als Schauspielerin finde ich sie gar nicht so überragend, aber sie hat ein wunderschönes Gesicht – und sie ist mein Patenkind.
Mich würde interessieren, wie es ihr geht, wie es ihr wirklich geht. Eigentlich traurig, oder? Dafür hat man doch einen Patenonkel. Dass er für einen da ist, wenn den Eltern was zustößt. Angelinas Mutter ist vor drei Jahren gestorben, und ich habe nicht mal Angelinas Nummer. Jeder Journalist könnte sie schneller ans Telefon kriegen als ich. Vielleicht schreibe ich ihr bald einen Brief. Es wäre ein trauriger Brief: Er würde davon erzählen, wie man sich verliert auf dieser Welt.
Dürrenmatt und Maria Schell
Mein bester Freund
Als Friedrich Dürrenmatt am 14. Dezember 1990 starb, drehte ich gerade in Prag. Es war zehn Uhr abends, als meine Schwester Maria anrief: »Du, Max«, sagte sie, »der Dürri ist gestorben.« Wir redeten noch eine Weile, dann legten wir auf. Erst gegen Mitternacht, also zwei Stunden später, begriff ich: Mein bester Freund war gestorben.
Dürri und ich lernten uns 1975 kennen, als ich Der Richter und sein Henker drehte. Wir verstanden uns von der ersten Minute an. »Maximilian«, sprach er mir mal aufs Band, »ich wollte nur mal deine Stimme hören.« Das war typisch. Er war lustig und warmherzig, direkt und ehrlich, viel bodenständiger als Max Frisch, der immer so kompliziert geredet hat. Als Dürris Frau Lotti 1983 starb, rief er mich auf der Alm an: »Ich bin so einsam«, sagte er, »darf ich zu dir kommen?« Vier Stunden später war er bei mir in der Steiermark, wir machten einen Wein auf, dann noch einen und redeten. Erst drei Monate später kehrte er zurück in die Schweiz. In der Zeit danach habe ich ihm Freundinnen von mir vorgestellt, eine davon wurde seine zweite Frau: Charlotte Kerr.
Ich bin ein großer Griechenland-Freund: Aristophanes, Sokrates, Plato – das ist meine geistige Heimat. Als Dürri an einem Sokrates-Drama arbeitete, sind wir zusammen durch Griechenland gereist. Wir waren in Delphi, Olympia und Mykene, waren sehr albern und haben uns dauernd gegenseitig gezeichnet. »Immer wenn ich mit einem Menschen nicht fertig werde«, hat er mir mal gesagt, »dann muss ich ihn zeichnen.«
Ich habe hier sogar noch ein Drehbuch rumliegen, das wir zusammen geschrieben haben: Midas. Wir haben zwei Jahre dran gearbeitet, es gibt 14 Versionen, die letzte ist richtig gut. Leider will niemand den Film finanzieren – zu teuer. Jetzt liegt er eben hier in der Schublade.
Meine Schwester
Maria und ich hatten kein gewöhnliches Leben. Wir sind getrennt worden, als ich sieben Jahre alt war. Ein paar Jahre später war meine Welt das Baseler Gymnasium, ihre Welt spielte sich zwischen Gary Cooper, Jean Cocteau und Yul Brynner ab.
Sie war kaum für uns zu erreichen, immer eingespannt: Dreharbeiten, Festivals, Partys. Maria hat mir damals Postkarten geschrieben, sie liebe mich über alles und so weiter. Ich habe ihr geantwortet: »Maria, wenn Du das einmal im Jahr auf eine Postkarte schreibst, ist das nicht viel wert.« Meine Schwester war mir einfach fremd geworden. Maria war die erste Schauspielerin auf dem Titel des Time Magazine, ein Weltstar. Ich stand in ihrem Schatten, mein Leben lang.
Als ich 1961 den Oscar gewann, dachte ich, jetzt werden mich die Menschen in Deutschland endlich als Maximilian Schell anerkennen. Aber was musste ich lesen, als ich aus Hollywood zurückkam? »Kleiner Bruder von Maria Schell gewinnt Oscar!« Ich habe es irgendwann aufgegeben, mich mit ihr zu messen. Dennoch: Der Tod verändert einen Menschen. Maria lebte bis zu ihrem Tod 2005 mit mir hier auf der Alm. Als sie nicht mehr da war, war ich allein. Vielleicht habe ich deshalb den Film über sie gemacht, weil ich sie trotz allem immer sehr bewundert und geliebt habe.
Meine zweite Heimat
Los Angeles hat mich fantastisch aufgenommen. Als ich 1957 ankam, meldeten sich sofort Emigranten aus Berlin und Wien und erkundigten sich nach der Heimat. Zuerst war ich unbekannt, aber das änderte sich schlagartig mit dem Oscar 1961. Danach spielte ich jeden Samstag Tennis auf dem Anwesen des Regisseurs Richard Brooks. Los Angeles ist mir viel vertrauter als Paris. Wenn ich dran denke, wie die Franzosen die Champs-Élysées runterlaufen und mit den Armen gestikulieren – das ist nicht meine Welt.
Ein Besuch bei Maximilian Schell
Im Dezember wird er 80, der Oscar- und Golden- Globe-Gewinner, der Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Maximilian Schell – aber auf eine Feier hat er keine Lust. Zu viel Aufregung. Gut möglich, dass er zu Hause bleibt, auf dem elterlichen Gutshof an der Grenze zwischen Kärnten und der Steiermark. Da oben hat er seine Ruhe, auf 1500 Meter über dem Meer kennt er jeden Baum, da weiß er, wie die Wolken ziehen. Ob man ihn wenigstens besuchen dürfe, ein bisschen plaudern, in Erinnerungen kramen? Ja, das könne man schon machen, sagt er.
Als wir zu zweit dort ankommen, schlagen Hunde an, Katzen huschen vorüber, ein Mercedes steht im Hof, Siebzigerjahre, Cabrio, im Kennzeichen die Initialen MS. Seine Assistentin führt uns in sein Bauernhaus, Holzschindeln, niedrige Decken; die Tür steht offen, jemand spielt Klavier. Wir treten ein, der Boden knarzt, Schell sitzt am Flügel – wie immer mit Schal – und spielt Beethovens Pathétique. Er bemerkt uns, spielt ein wenig weiter, erst dann bricht er ab. Er möchte, dass wir applaudieren, also applaudieren wir.
Es folgen intensive, anstrengende Stunden, ein Nachmittag, ein Abend, ein Vormittag und noch ein Nachmittag. Wir reden, er zeigt Fotoalben, alte Bücher, Bilder, Briefe, Autografen. Mit dabei zwei Assistentinnen und eine hübsche blonde Frau im Jogginganzug – seine Lebensgefährtin.
Maximilian Schell ist ein besonderer Mann, weich, gefühlvoll, gebildet, aber auch streng und eitel, immer noch attraktiv und ziemlich eigen. Ein Menschenkenner, Menschendarsteller, Menschenliebhaber, von dem man weiß, dass er ein Weltstar ist, einer der ganz wenigen deutschsprachigen Künstler, die es geschafft haben in London, am Broadway, in Hollywood – aber würde man jemanden fragen, welche Filme er gemacht, in welchen er mitgespielt hat, dann käme wohl nicht so viel: Das Urteil von Nürnberg, Die jungen Löwen, das schon, auch die Dokumentationen über Marlene Dietrich und seine Schwester Maria, aber sonst? Maximilian Schell war so erfolgreich, im Ausland, dass er in Deutschland immer ein Fremder geblieben ist.
Fotos: Getty