»Akustische Musik kann die technologischen Oberflächen aufbrechen, die uns umgeben«

Der Mandolinenvirtuose Chris Thile erklärt, warum er sich für sein neues Album an drei Kompositionen von Johann Sebastian Bach versucht hat, warum er nichts vom Gegensatz zwischen Klassik und Folk hält und warum die akustische Musik in unserer digitalen Welt wichtiger ist denn je.

Foto: Brantley Gutierrez/Nonesuch Records

Als ich vor einigen Wochen von der neuen CD von Chris Thile, Mandolinenspieler bei den Punch Brothers, hörte, war ich sehr erstaunt. Man hat ja schon viele ungewöhnliche Repertoire-Entscheidungen und musikalische Kehrtwenden erlebt, aber was Thile hier tut, ist meines Wissens dann doch einmalig und ziemlich spektakulär: Auf seiner Mandoline spielt er zwei Sonaten und eine Partita von Johann Sebastian Bach - Hauptwerke des klassischen Geigenrepertoires und natürlich bombenschwere Stücke. Ich bin kein intimer Kenner dieser Werke, doch auch mir fällt auf, dass Thiles Interpretation alles andere als ein Witz ist, sondern von tiefem Verständnis und intensiver Beschäftigung mit Bach zeugt. Es ist selten, einem Musiker mit einem derart breiten Horizont zu begegnen.

Dazu passt die Meldung, dass Thile im vergangenen Jahr einen sogenannten »Genius Grant« von der amerikanischen MacArthur Foundation erhalten hat. Das ist ein mit 500.000 Dollar dotierter Preis, der jährlich an einige besonders schlaue Leute verliehen wird. Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit, mit Chris Thile über seine CD Bach: Sonatas And Partitas, Vol. 1 (Nonesuch) zu sprechen.

Wie fühlt es sich an, offiziell zum Genie erklärt zu werden?
Ziemlich unglaublich. Ich fühle mich aber nicht klüger als vorher. Eigentlich sogar ein bisschen dümmer. Du schaust dir die Liste der ganzen Leute an, die vor dir diesen Preis bekommen haben, und fragst dich: Was habe ich da zu suchen? Was habe ich schon großes geleistet?

Meistgelesen diese Woche:

Meist sind es Wissenschaftler, die diese Auszeichnung erhalten. Wie ist das Preiskommittee ausgerechnet auf Sie gekommen, einen Mandolinenspieler?
Der ganze Vorgang unterliegt höchster Geheimhaltung. Ich hatte keine Ahnung, dass ich überhaupt vorgeschlagen worden war. Und dachte anfangs, dass es sich um einen riesengroßen Irrtum handeln müsse.

500.000 Dollar haben Sie bekommen. Was machen Sie mit dem ganzen Geld?
Das wird gespart. Die einzige größere Ausgabe, die ich hatte, war für eine wirklich schöne Mandoline. Gerade liegt sie hier neben mir auf der Parkbank, ich habe später noch eine Probe mit den Punch Brothers.

In der klassischen Musik gibt es einen großen Kult um alte, besonders gut klingende Instrumente. Gibt es ähnliches auch bei Mandolinen?
Ja, der Stradivari der Mandoline heißt Lloyd Loar. Er hat in den Zwanzigern für Gibson gearbeitet und nur ungefähr 250 Mandolinen gebaut, viel weniger Instrumente als Antonio Stradivari. Ich habe jetzt zwei davon, sie sind wirklich wunderschön. Der Ton eines großartigen Instruments ist unendlich nuanciert und Lloyd Loar hat seinen Mandolinen eine neue, komplexe Tonstruktur verliehen; vor ihm hatten Mandolinen keinen besonders nuancierten Klang. Ich ziehe meinen Hut vor diesem großen Mann.

Ihre Anfänge liegen in der Bluegrass- und Folkmusik. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mit dieser Musik in Kontakt gekommen sind?
Ja, da war ich noch richtig klein, vielleicht drei oder vier, und es ist fast ein bisschen lächerlich, wie deutlich ich mich daran erinnere. Alles fing an mit einer Flatt&Scruggs-Kassette. Zu Weihnachten hatte ich einen Kassettenrekorder von Fisher Price bekommen und hörte mir wieder und wieder diese Kassette an, besonders das Stück »Sally Ann«, in dem Earl Scruggs auf seinem Banjo bis zum hohen G empor fliegt. – Er fängt an, die Melodie zu singen.– Ich war total gebannt von diesem Sound! Zur selben Zeit haben mich meine Eltern zum wöchentlichen Auftritt von einer Band namens Bluegrass Etc. mitgenommen, deren Mandolinist John Moore mich fasziniert hat. Andere Kinder haben Baseball-Spielern nachgeeifert, ich wollte dieser Mandolinenspieler sein. Später habe ich dann Unterricht bei ihm gehabt.

»In der Folkmusik gibt es harmonische Einfälle, die Mahlers Neunter in nichts nachstehen«

Und das alles in Süd-Kalifornien – weit weg von den Zentren der Bluegrass-Musik in den amerikanischen Südstaaten.
Ja, das hatte den Effekt, dass bei uns weniger die traditionelle Bluegrass-Musik im Stil Bill Monroes gepflegt wird.

In der Bluesgrass-Musik spielt technische Virtuosität eine große Rolle. War das etwas, auf das Sie schon früh angesprungen sind?
Ich war schon sehr früh unzufrieden damit, dass mein Körper mir Grenzen bei dem setzt, was ich spielen kann. Ich habe stetig daran gearbeitet, diese Grenzen zu eliminieren und im Zuge dessen natürlich viel geübt, um technisch besser zu werden. Ich glaube, ich habe aber schon früh verstanden, dass Virtuosität nur ein Mittel zum Zweck ist und dass das Ziel immer darin liegen muss, schöne Musik zu machen. Virtuosität kann dabei helfen, sie ist aber kein Wert an sich.

Mit Ihren Bands Nickel Creek und den Punch Brothers haben Sie die Bluegrass-Musik modernisiert und einem jungen Publikum nahegebracht, das vorher, so kommt es mir vor, oft wenig mit akustischer Musik zu tun hatte. Welchen Platz hat akustische Musik in unserer Welt?
Ich denke, akustische Musik spielt heute eine ganz wichtige Rolle. Wir sind doch total umgeben von digitaler Technologie. Wenn es nicht so ein Klischee wäre, würde ich sagen: Wir leben in der Matrix. Wir sind den ganzen Tag online, wo alles manipuliert werden kann. Akustische Musik kann diese technologischen Oberflächen aufbrechen, die uns umgeben, zumindest ein Stück weit. Selbst wenn du in der U-Bahn stehst und auf deinem iPod akustische Musik hörst, verschafft sie dir eine Ahnung von organischer Interaktion. Aber am besten ist es natürlich, wenn man selber so eine Holzkiste in der Hand hat, aus der Töne rauskommen.

Nun spielen Sie nicht mehr Bluegrass, sondern Bach. Wie sind Sie zu dessen Musik gekommen?
Entscheidend dafür war Glenn Goulds zweite Aufnahme der Goldberg-Variationen. Ich erinnere mich noch genau daran, was für einen Eindruck diese Musik auf mich gemacht hat! Zuerst hat mich der Rhtyhmus gepackt: Da war ein Groove, den ich in der klassischen Musik nie vermutet hätte. – Er fängt wieder an zu singen. – Da muss man sich bewegen, wenn man diesen Groove hört! Und als sich mein Körper bewegte, fiel mir dann auch auf, wie unglaublich stimulierend diese Musik für den Verstand ist, wieviel Futter für meinen Geist darin steckte. Als jemand, der vom Folk und Bluegrass kam, war ich geplättet von Bachs harmonischer Eleganz und der Raffinesse seines Kontrapunkts.

Auf Ihrer neuen CD spielen Sie zwei Violin-Sonaten und eine Partita von Bach. Haben Sie eine neue Herausforderung gesucht?
Obwohl diese CD stilistisch ganz anders ist als meine früheren Platten, ist sie für mich doch auch eine Fortsetzung von all dem, was ich früher gemacht habe. Mir fallen immer eher die Gemeinsamkeiten zwischen großen musikalischen Werken auf als die Unterschiede – selbst wenn es sich um Stücke aus ganz unterschiedlichen Genres handelt.

Viele Klassik-Fans würden darauf erwidern, dass die Werke von Bach und Beethoven alles andere überragen und keinesfalls mit irgendwelcher Pop- und Folkmusik verglichen werden können.
Hah! Das ist eines meiner Lieblingsthemen. Es geht ja nicht darum, dass es zwischen den verschiedenen Stilen keine Unterschiede geben würde. Und gewiss sind die harmonischen Möglichkeiten der Musik nirgendwo mit solchem Können und solcher Hartnäckigkeit erkundet worden wie in der klassischen Musik, von Bach über Mozart bis Beethoven, Brahms, Mahler, Bartók und so weiter. Das ist ohne Zweifel eine großartige Tradition – aber keine, die notwendigerweise im Konflikt mit der Folkmusik stehen muss. Was beides trennt, ist in erster Linie die Tatsache, dass die Folkmusik nur mündlich überliefert wird. Aber in der Folkmusik gibt es harmonische Einfälle, die Mahlers Neunter in nichts nachstehen. Und was den Rhythmus angeht, ist die Folkmusik der Klassik weit voraus. Folkmusik kann sehr komplex sein und die Musiker haben oft ein tiefes Verständnis und eine Verbindung zu ihren Rhythmen, die jemand nur schwer erreichen kann, der alles nur auf dem Notenblatt liest. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass es an der Spitze eigentlich gar keine Trennung zwischen den verschiedenen Genres gibt und dass die größten Musiker das auch gewusst haben.

Bachs Sonaten und Partiten gehören zu den großen Prüfsteinen im klassischen Geigenrepertoire. Wie ist es überhaupt möglich, diese auch technisch sehr schwierigen Stücke auf der Mandoline nachzuspielen?
Einige Stellen in dieser Musik, die auf der Geige sehr schwierig zu spielen sind, passen interessanterweise viel besser zur Mandoline. Zum Beispiel die drei- und vierstimmingen Akkorde und die vom Kontrapunkt geprägten Passagen. Auf der Geige muss man sich da ziemlich anstrengen, auf der Mandoline kann man das hingegen sehr delikat spielen. Die lyrischen Solopassagen, in denen die Geiger ein bisschen durchatmen können, sind wiederum sehr schwierig auf der Mandoline zu realisieren, weil die Mandoline nicht diesen langen Nachhall hat. Daneben gibt es aber viele Gemeinsamkeiten: Mandoline und Geige sind genau gleich gestimmt, ich musste nichts transkribieren und spiele genau dieselben Noten wie ein Geiger. Beide Instrumente eignen sich auch gut für temporeiche Passagen. Die Stücke sind auf der Mandoline also genauso schwierig, aber ins Schwitzen kommt man an anderen Stellen. Was einer der Gründe dafür ist, dass es kein Gimmick ist, die Sonaten von Bach auf der Mandoline zu spielen. Ich denke, wegen der Stärken der Mandoline wirft meine Interpretation ein neues Licht auf diese Musik.