»Natur > Mensch«

Yuko fragt sich, warum es keine Grünen in Japan gibt, warum manche Regale im Supermarkt leer sind und ob sie Fleisch aus dem Norden des Landes kaufen soll. Teil elf ihres Krisen-Tagebuchs

Normal 0 21

In Japan gibt es keine Grünen
Am 10. April wird in Tokio gewählt. Schon jetzt sehe ich überall Wahlplakate in den Straßen, darauf die Gesichter der Kandidaten. In Deutschland, so habe ich im Internet gelesen, wurde auch gerade gewählt. Es heißt, die grüne Partei habe einen großen Sieg eingefahren. In Japan gibt es keine Grünen. Jedenfalls habe ich noch nichts von ihnen gehört.  

Meistgelesen diese Woche:

Die Natur ist eine göttliche Kraft
Das liegt auch daran, dass die Öko-Bewegung hier bisher kaum in Erscheinung getreten ist. Vielleicht wird sich das jetzt ändern. Aber Japan besitzt keine grüne Tradition. Wir haben den Zweiten Weltkrieg mit Pauken und Trompeten verloren. Der Wiederaufbau des Landes hatte damals oberste Priorität, war das absolut Wichtigste. Ähnlich wie in Deutschland. Erst in den Sechziger Jahren wurde die industrielle Verschmutzung als ein ernsthaftes Problem wahrgenommen. Außerdem haben wir Japaner sicherlich ein anderes Verhältnis zur Natur als ihr Europäer. Wir hatten nie das Bedürfnis, die Natur zu unterjochen, haben nie daran geglaubt, sie kontrollieren zu können. Sie ist keine feindliche Kraft, sondern eine göttliche. Die Gleichung sieht so aus: Natur > Mensch. Das hat sich wieder einmal bestätigt.  

Ein Gespräch mit Sohei
Zufällig habe ich gestern einen Freund von mir getroffen. Sohei ist Wissenschafts-Journalist. Ich sprach ihn auf das Thema „Grüne Politik in Japan“ an, und er bestätigte mir: „In Japan gibt es keine politische Partei, deren Kernaussagen den Umweltschutz behandeln.“ Aber: „Die Sozialdemokraten wie auch die Kommunistische Partei Japans sprechen sich eindeutig gegen Nuklearenergie aus.“ Yuko sagte: „Ich verstehe”. Sohei sagte: „Wir wurden fast sechzig Jahre lang von der Liberaldemokratischen Partei regiert. Man könnte sagen: Japanische Politik hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wirklich weiterentwickelt.“

Spontane Panikkäufe
Ich möchte etwas Anständiges kochen und gehe in den nahen Tokyu Supermarkt. Großen Supermärkte habe ich die ganze Zeit gemieden. Der Anblick leerer Regale macht mir immer noch Angst. „Liebe Kunden, aufgrund spontaner Panikkäufe sind wir leider gerade ausverkauft”. Es erinnert mich daran, dass wir uns immer noch in der Schwebe befinden, in einem Zustand absoluter Unsicherheit. Meine Mutter hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es nach und nach wieder Milch in den Regalen gibt. Das fehlende Produkt des Tages sei nun Nattou. Sie musste dabei beinahe lachen.  

Der Nattou-Engpass
Nattou ist eine Paste aus Sojabohnen. Sie stinkt, schmeckt jedoch ganz toll auf warmem Reis, seltsamerweise. Aber dass es nun ausgerechnet bei diesem gewöhnlichen Lebensmittel einen Engpass geben soll? Weil einige Wissenschaftler gesagt haben, bestimmte Lebensmittel, unter anderem Nattou, bieten einen gewissen Schutz gegen die Radioaktivität? Ich stehe vor dem Nattou-Regal, und tatsächlich: ausverkauft! Nichts ist übrig, leere Regale. Ich bleibe aber ruhig. Und muss selbst lachen. Jetzt werden wohl viele Kühlschränke in der Stadt sehr viel unangenehmer riechen als üblich.

Hühnchen aus Miyagi?
Mineralwasser in Flaschen ist auch nicht mehr da, und bestimmte Gemüsesorten, Spinat etwa, werden knapp. Nur das Gemüse aus der Präfektur Ibakari will keiner haben. Ibakari liegt südlich von Fukushima. Da haben die Leute Angst, das Gemüse könnte radioaktiv verseucht sein, obwohl es als „sicher“ deklariert worden ist. An der Fleischtheke wurde ein Schild angebracht: „Lieber Kunde, unser Geflügel stammt aus Chiba, Miyazaki und Miyagi.“ Der Supermarkt will klarstellen, dass sein Fleisch vor allem aus sicheren, weil weit entfernten Regionen stammt. Chiba ist östlich von Tokio und Miyazaki liegt weit im Süden des Landes. Miyagi hingegen ist im Norden, näher dran an Fukushima, aber scheint nicht unmittelbar betroffen zu sein. Nun ist es dem Kunden überlassen, ob und welches Fleisch er verzehren möchte. Ich gebe zu, ich habe für einen Augenblick nachgedacht, kein Fleisch zu essen. Letztlich habe ich Hühnchen gekauft.

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
Yukos Tagebuch (III) - "In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein"
Yukos Tagebuch (IV) - "Ich möchte in aller Bescheidenheit etwas klarstellen"
Yukos Tagebuch (V) - "Früher hätte ich gedankenlos gesagt: Ist ja wie ausgestorben hier"
Yukos Tagebuch (VI) - "Die Belanglosigkeit ist wohltuend"
Yukos Tagebuch (VII) - "Die Motivation ist mir abhanden gekommen"
Yukos Tagebuch (VIII) - "Die Radioaktivität läuft durch unsere Wasserhähne"
Yukos Tagebuch (IX) - "Nichts Neues. Es ist herrlich. Heute putze ich"
Yukos Tagebuch (X) - "Die Power Generation Girls in der Dunkelstadt Shibuya"