Ein Sommersonntag, kurz nach elf, gleich wird meine Schwester ankommen am Münchner Hauptbahnhof. Meine Töchter sind beim Vater, morgen wechseln sie zu mir. So ist es verabredet, eine Woche hier, eine Woche da, seit mehr als einem Jahr. Fühlt sich eigentlich normal an. Nur als ich mich anziehe, um Jule am Gleis zu empfangen, denke ich, wie traurig es wäre, ohne meine Kinder dort zu stehen. Jule ist immer mehr Tante als Schwester gewesen, sie liebt Martha und Louise. Sie hat ihnen das Händewaschen vorm Essen beigebracht. Kastanien mit ihnen gesammelt. Osterzöpfe gebacken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, Jule zu umarmen, ohne dass meine Töchter zuvor auf sie zu gerannt sind, das wäre ja unvollständig. Und wenn sie mitkämen?
Ich rufe Jan an. Festnetz. Vielleicht hatte er Nachtdienst und ist froh, wenn ich Martha und Louise einfach abhole und mit ihnen den Tag verbringe. Anna hebt ab, Jan hat Dienst. Anna, erkläre ich, ein bisschen gehetzt, meine Schwester Jule kommt zu Besuch und wir wollen mit Paul an den See fahren, segeln. Ich bremse mich und frage: Was habt ihr denn vor? Wir wollen auch an den See fahren, sagt Anna, an den Wörthsee. Familie K. kommt auch mit... warum? Naja, antworte ich, ich dachte, vielleicht könnte ich Martha und Louise abholen. Wenn es euch passt, Jan arbeitet ja. Anna schlägt vor, dass wir sie an den Wörthsee begleiten, aber das geht ja nicht, Pauls Boot liegt ganz woanders. Dann sagt sie, natürlich könne ich die Mädchen holen, wenn es dringend wäre –
Ich merke, wie ich alles durcheinander bringe, einen Plan zerstöre, fragile Normalität in Frage stelle. Jetzt müsste ich die Wohnung verlassen, um pünktlich am Bahnhof zu sein. Ich habe Erdbeertiramisu gemacht, mir fällt ein, dass es meinen Kindern sicher schmecken würde. Ich laufe auf und ab, lasse mich an Louise weiterreichen. Ob sie Lust habe, im Wörthsee zu baden mit Anna und Familie K.? frage ich. Louise sagt vorsichtig: Mama, warum fährst du nicht einfach an deinen See, hast dort einen guten Tag, und wir hier? Ihre Antwort trifft mich hart. Sie hat Recht. Ich habe sie in Schwierigkeiten gebracht, aus der Sehnsucht heraus, die Welt solle für einen Moment so sein wie früher.
Jetzt beruhige dich mal, sagt Paul, der beobachtet, wie ich weiter glaube, ich müsse ein tragisches Missverständnis verhindern: Ich war mit deinen Kindern auch schon am See an einem anderen Sommersonntag, als du gearbeitet hast. Ich sehe, dass ich meine Kinder nicht nur mit ihrem Vater teile. Sondern mit vielen Menschen. Es scheint sie nicht zu belasten – wenn ich mich an die Vereinbarungen halte. Sie sind das Korsett im Patchwork. Sie halten diese neue Familie zusammen, in die ich als Mutter hereingeplatzt bin wie ein unfair gespielter Trumpf.
Ich bin zu spät. Jule wartet am Nordausgang neben Menschen, die ankommenden Flüchtlingen zuwinken. Ich winke. Die Kinder, ihre erste Frage während wir uns umarmen, sind gerade bei Jan? Ich nicke. Dann laufen wir zu Paul, der im Auto wartet.
Illustration: Grace Helmer