Meine Tochter Martha hat sich die Haare schneiden lassen. Das wurde mit einem knappen Telefonat angekündigt. Mama, darf ich? Worum geht's? fragte ich, um die Spitzen? Ja. Dann ist es in Ordnung, sagte ich, da hatte sie schon wieder aufgelegt. Was ich nicht wusste, war, dass Marthas Patchwork-Schwester Lina ihr die Haare schneiden würde. Sie band Martha ein schmales Tuch um den Hals, wie mir mein Ex-Mann später erzählte, damit sie eine Linie hatte, an der sie sich orientieren konnte. Der zweite Anruf kam von Louise, Marthas Schwester. Louise ist zehn und war schon immer darum bemüht, dass es allen gut geht. Es ist kurz geworden, sagte sie jetzt, schimpf bitte nicht. Es dauerte noch vier Tage, bis ich sehen konnte, wie kurz.
Jede zweite Woche leben meine Kinder in einer Patchwork-Familie, zusammen mit ihrem Vater Jan und seiner Freundin Anna. Oft werde ich gefragt, wie die Neue sei, die jetzt mit meinen Kindern viel Zeit verbringt. Ich finde sie sympathisch. Sie hat eine 13-jährige Tochter und einen sechs Jahre alten Sohn. In den ersten Wochen nannten meine Kinder sie Bruder und Schwester und führten sie herum wie neue allerbeste Freunde. Sie waren euphorisch, die neue große Wohnung eine Villa Kunterbunt. Sie teilten sich die Betten, manchmal die Badewanne und schliefen selten vor zehn, das sah ich auf ihren Whatsapp-Profilen: Zuletzt online um 22.06 Uhr. So spät? An einem Dienstag? Konnte sie nicht einschlafen? Hatten sie einen Film geschaut? Ich erfahre es nicht. Fühle mich abgehängt.
Sind die Kinder bei ihrem Vater, arbeite ich länger, treffe Freunde, lasse es spät werden. Und nach drei Nächten und einem Tag bekomme ich Sehnsucht. Ich rufe sie an. Die Gespräche sind einsilbig, denn Kinder vermissen nicht, jedenfalls nicht so wie Erwachsene. »Vermisst ihr Papa?«, frage ich, wenn wir gemeinsam lachen und mir plötzlich einfällt, dass ihr Vater nicht dabei ist. Dass er unser Frohsein nicht teilen kann. »Schon«, sagen sie. Aber ich spüre, dass eigentlich ich es bin, die ihn vermisst, schließlich war er elf Jahre lang dabei, wenn wir lachten. Wir verstehen uns immer noch gut. Jan sagt: Jederzeit kannst du vorbei schauen, wenn du das brauchst.
Als ich Louise und Martha das erste Mal besuche, führen sie mich herum wie eine Tante. Martha zeigt auf ein Bild in ihrem Zimmer und sagt: Das ist meine Klasse. Sie musste vergessen haben, dass ich das ja weiß. Ihre Decken sind mit geblümter Bettwäsche bezogen, die Anna ihnen genäht hat. Sie sehen schön aus. (Wann hatte ich den Kindern zuletzt etwas genäht?) Ich lege mich auf Marthas Bett, schaue an die Wand und frage mich, welche Schatten sie abends sehen. Welche Geräusche sie in den Schlaf begleiten.
Viele Jahre wusste ich das. Ich sang abends immer dasselbe Lied, Schutzengel mein. Das war unser Schlafritual. Ich wusste auch, welche Musik sie hörten, welche Kleider sie trugen, denn die hatte ich schließlich gekauft. Jetzt erkenne ich die Kinder manchmal nicht wieder. »Haben Sie meine Tochter Martha gesehen?«, frage ich eine Hortnerin in der Schule, die mich anstarrt und dann nach links schaut. Ich folge ihrem Blick, da steht ein Mädchen vor der Tafel. Blonde Haare, stimmt, aber das Kleid? Tailliert, grüner Cord, noch nie gesehen. Sie tragen schulterfreie Oberteile, Stiefel und Pullover, auf denen steht: I love New York. Und wenn ich sie frage, woher sie die Sachen haben, antworten sie knapp: Kleidertausch. Oder: von Barbara. Ich schreibe auf einen Zettel: Barbara kennenlernen.
Illustration: Grace Helmer