Das Problem der Vorsorge kennt man aus La Fontaines Fabel von der Grille und der Ameise: Die Grille hatte den ganzen Sommer lang gezirpt, während die Ameise fleißig war. Als dann der Winter kam und die Grille die Ameise bat, ihr von deren Vorräten abzugeben, fragte die Ameise nur, was die Grille im Sommer getan habe. Diese antwortete: »Durch mein Singen die Leute ergötzt«, worauf die Ameise zynisch meint: »Durch dein Singen? Sehr erfreut! Weißt du was? Dann tanze jetzt!«
Was bedeutet das nun genau? Über die Moral dieser Fabel lässt sich streiten, eher zu einem Ergebnis kommt man, wenn man die Alternativen durchdenkt. Sie schreiben selbst, dass Sie in der U-Bahn aufgestanden wären, nicht jedoch, wenn vier Stunden Fahrt vor Ihnen liegen. Das gilt aber auch umgekehrt: Soll die Dame vier Stunden stehen? Wahrscheinlich würde sie es körperlich schlicht nicht durchstehen. Natürlich hätte auch sie sich um eine Reservierung kümmern können; nur hilft das nicht weiter, wenn sie kurz vor Hannover im Gang zusammenbricht, weil Sie die hartherzige Ameise gegeben haben.
Rekurse auf Versäumnisse in der Vergangenheit sind im Strafrecht und in der Erziehung sinnvoll und nützlich, sonst für das Zusammenleben meist nicht sehr förderlich. Ich kann Ihren Unmut verstehen, nur sehe ich tatsächlich wenig andere Möglichkeiten. Wenn Sie dringend arbeiten müssen oder völlig erschöpft sind, verweisen Sie darauf und bitten Sie die Dame, jemand anderen zu fragen. Sonst aber müssen Sie wohl in den sauren Apfel beißen. Denn wenn jeder auf den Nächsten deutet, steht die Dame bis Köln. Ich würde allerdings den Schaffner ansprechen, ihm die Lage schildern und ihn fragen, ob es nicht noch einen Sitzplatz für Sie gebe. Es würde mich sehr wundern, wenn sich nicht spätestens ab dem nächsten Halt etwas für Sie fände.
Illustration: Jens Bonnke