Vor einiger Zeit schrieb ein prominenter Kolumnist einer großen deutschen Online-Nachrichtenseite: »Es ist eine der beklagenswerten Grundtatsachen des Lebens, dass sich am Strand und im Theater immer die Falschen ausziehen. Schwer zu sagen, was gerade Menschen, die es sich nicht leisten können, dazu treibt, sich vor aller Augen ihrer Kleidung zu entledigen.« Menschen, die es sich nach Ansicht des Autors leisten können, vor anderen nackt zu sein, sollten die 45 nicht überschritten haben - und alles an ihnen sollte schön fest und knackig sein. Der Rest der Welt? Bitte eingepackt bleiben, es könnten sich die Augen mancher Menschen ja sonst beleidigt fühlen.
Als ich den Text las, ärgerte ich mich kurz. Aber ich wunderte mich nicht. Die Aussage deckte sich zu sehr mit dem, was ich von Kindesbeinen an kenne: zu Land die »fette Sau«, am Strand und im Schwimmbad der »Walfisch«. Solche Beleidigungen sind der Grund, weshalb ich als Kind den Badeanzug immer schon unter meinen normalen Klamotten trug und das Chlor des Schwimmbeckens erst zuhause von meiner Haut waschen konnte, weil ich mich nicht nackt unter die Dusche stellen wollte. Mein Badeanzug war so etwas wie eine letzte Schutzschicht, die ich brauchte.
Das sollte nicht so sein. Denn natürlich ist es mein gutes Recht, nackt zu duschen. Auch in einem öffentlichen Schwimmbad. Es ist mein gutes Recht, nackt in einem See zu baden und das herrliche Gefühl des kalten Wassers auf der Haut zu spüren. Die Freiheit zu spüren, die mit dem Nacktsein einhergeht. Das Problem: Genau dieses Gefühl steht in unserer Gesellschaft beim Nacktsein ziemlich selten im Mittelpunkt. Stattdessen geht es ums Präsentieren, Beweisen, Bewerten. Nacktsein in der Sauna oder am Strand ist weniger Genuss als Wettbewerb: Wer hat den knackigsten Po, den straffsten Bauch, die schönsten Brüste?
Spielfiguren wie Barbie sind so schlank, dass sie erst in der Ausführung »curvy« in den anatomisch realistischen Bereich kommen
Schlanke (fast) nackte Körper sehen wir vielerorts, auf Werbeplakaten, im Fernsehen, auf Instagram, dort oft als körperliche Selbstinszenierung. Dicke nackte Körper dagegen ziemlich selten. Das liegt auch daran, dass der dicke Körper ganz bewusst aus der Normalität und damit aus unserer Wahrnehmung herausgelöst wird - und zwar schon in der Produktwelt der Kinder. Spielfiguren wie Barbie sind so schlank, dass sie erst in der Ausführung »curvy« in den anatomisch realistischen Bereich kommen, und Barbies männliches Pendant Ken bringt den Waschbrettbauch ins Kinderzimmer. Den dicken Körper lernen Kinder nur da spielerisch kennenlernen, wo die Eltern gezielt entsprechendes Spielzeug anschaffen (so sie es im Handel überhaupt finden). Oder den Kindern gezielt Geschichten vorlesen, in denen die Hauptfiguren nicht dem dünnen Ideal entsprechen, so wie Wanda in Wanda Walfisch. Ein Buch, das von einem kleinen dicken Mädchen beim Schwimmunterricht erzählt, das anfangs gehänselt wird und am Ende voller Wonne und mit viel Selbstwertgefühl ins Becken springt. Das wäre sowas von mein Buch gewesen als Kind!
Solche Geschichten sind allerdings die große Ausnahme. Oftmals verschwindet der dicke Körper sogar da, wo er uns lange Zeit begleitet hat. Vor ein paar Jahren etwa wurde der vormals knuddelige Bob der Baumeister jünger, größer, muskulöser - und vor allem schlanker. Ähnlich war es kurz zuvor schon Biene Maja ergangen: In der Neuauflage der Zeichentrickserie verlor Maja ihre typische rundliche Figur. Erhalten blieb die runde Kopfform, die in Kombination mit dem schlanken Torso und den stärker ausgearbeiteten Kulleraugen wirkt, als sei sie einem Manga-Comic entsprungen. Das sind nur einige Beispiele, die deutlich machen sollen, warum der dicke Körper für Kinder etwas Fremdes bleibt.
Ich war Mitte 20, ehe ich das erste Mal meinen nackten Körper in einer Sauna zeigte. Selbst wäre ich nie auf die Idee kommen, in die Sauna zu gehen, doch mein damaliger Partner mochte Wellness. Seine Zuneigung gab mir die Sicherheit, für die ich zuvor immer den Badeanzug gebraucht hatte. Nacktsein in bestimmten Situationen, zum Beispiel in einem Wellness-Bereich, das ist heute etwas völlig Normales für mich. Ich schaue nicht nach rechts und links, ich sehe die Blicke der anderen nicht (falls es welche gibt), sondern bin ganz bei mir. Denn darum geht es ja beim Nacktsein: sich selbst ganz zu spüren. Mit Haut und Haaren sozusagen.
Protokoll: Sara Peschke