Die Auswahl an Berufen, die für mich infrage kamen, war schon früh eingeschränkt. Nicht, weil ich bestimmte Dinge per se nicht gekonnt hätte. Sondern weil mir beigebracht worden ist, dass ich sie mit meinem dicken Körper nicht kann. »So, wie du aussiehst, wirst du nie Karriere machen« - dieser Satz war mein ständiger Begleiter in Kindheit und Jugend. Es ist nicht so, dass ich nicht gefördert worden wäre, schon als Siebenjährige bin ich in den Chor gegangen und habe eine klassische Gesangsausbildung bekommen. Trotzdem hatte ich nie im Kopf, dass ich Sängerin werden könnte. Denn wo immer sich ein Talent abzeichnete, wurde daraus: »Wenn du schlank wärst, dann könntest Du daraus was machen. Aber so?« Für mich hatte das zur Folge, dass ich nach der Schule keine Ahnung hatte, was ich werden wollte.
Ich komme aus einer Arbeiterfamilie; ein Ausbildungsberuf, mit dem ich in nicht allzu weiter Ferne Geld verdienen könnte, schien deshalb erst einmal logisch. Aber ich hatte keine Chance. Ich bewarb mich bei unzähligen Werbeagenturen um einen Praktikumsplatz - auf kaum eines meiner Schreiben bekam ich eine Antwort und keine einzige Einladung zum Gespräch. Woran lag das? War ich wirklich nicht gut genug? Dagegen sprach, dass zumindest meine Ideen gut ankamen: In einer Werbekampagne fand ich etwas später leicht abgewandelte Motive aus meinen Arbeitsproben wieder. Es dauerte etwas, dann ahnte ich: Mein Aussehen deckte sich offenbar nicht mit den optischen Ansprüchen an eine zukünftige Mediengestalterin.
Heute weiß ich, dass das nicht nur ein diffuses Gefühl von mir war. Es gibt Studien, die dieses Phänomen belegen. Die Universität Tübingen zum Beispiel hat vor einigen Jahren herausgefunden, dass selbst erfahrene Personalentscheider dicken Menschen keine Führungsqualitäten und keine angesehenen Berufe zutrauen. Den Personalerinnen wurden Fotos von Menschen vorgelegt, die alle ungefähr gleich alt waren und einen vergleichbaren sozioökonomischen Status hatten, aber unterschiedliches Körpergewicht. Diesen sollten die Befragten Berufe zuordnen und zudem die Person benennen, die ihrer Meinung nach in einem Bewerbungsgespräch für die Abteilungsleitung in die engere Wahl käme. In beiden Fällen schnitten Personen mit hohem Gewicht am schlechtesten ab. Und eine Studie der britischen Uni Exeter von 2016 zeigt, dass das Jahreshaushaltseinkommen von Frauen pro zusätzlichem BMI-Punkt über dem Normalgewicht deutlich sinkt (um die 2000 Euro). Ein weiteres interessantes Ergebnis dieser Studie ist, dass der BMI bei Männern erheblich weniger Einfluss auf den sozioökonomischen Status hat - dafür die Körpergröße. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich wollte weniger den Job als die Gewissheit, ob wirklich mein Aussehen das Problem war.
Ich zitiere diese Studien, um deutlich zu machen, dass der Weg dicker Menschen in die Arbeitswelt seine ganz speziellen Hürden hat. Und weil sich vor allem die Ergebnisse der Tübinger Studie eng mit meinen eigenen Erfahrungen decken. Es war damals eine große Enttäuschung, abgelehnt oder, noch schlimmer, wie Luft behandelt zu werden. Doch ich hatte das Glück, dass mir durch mein Abitur auch noch die akademische Welt offen stand. Auf der Suche nach dem passenden Studium ging ich nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor, ich probierte einiges aus, Modedesign, Informatik, Philologie. Irgendwie wollte nichts so richtig passen, und so ergriff ich meine Chance, als mir ein ehemaliger Mitstudent anbot, in sein Startup einzusteigen. Er hatte mich und meine Arbeit erst kennen-, dann schätzen gelernt. Diese Möglichkeit hatte ich auf keine meiner Bewerbungen hin bekommen.
Als mir Jahre später die Ausschreibung eines norddeutschen Radiosenders in die Hände fiel, der eine Webdesignerin suchte, bewarb ich mich. Ich wollte weniger den Job als die Gewissheit, ob wirklich mein Aussehen das Problem war. Ich schrieb eine simple Mail, ohne Lebenslauf, ohne Foto, nur mit einem Link zu meinen Arbeitsproben und den Worten: »Entscheidend ist, dass Ihnen meine Arbeit gefällt. Wenn das der Fall ist, freue ich mich, von Ihnen zu hören.« Noch am selben Tag bekam ich eine Antwort. Was in den USA längst normal ist, ist seitdem meine Erfolgsstrategie: Ich habe mich nie wieder mit einem Foto beworben, wodurch sich die Reaktionsquote auf meine Anschreiben um etwa 75 Prozent erhöht hat.
Mir ist klar geworden: Will ich beachtet und für einen Job in Betracht gezogen werden, muss ich den Blick auf mich selbst bestimmen und auf das lenken, was ich kann. Denn auch das ist etwas, das mir im Berufsleben immer wieder passiert: Durch meinen dicken Körper werde ich chronisch unterschätzt. Das liegt zum einen an dem gängigen Vorurteil, dicke Menschen hätten eine schlechte Bildung. Und zum anderen daran, dass ich oft um viele Jahre jünger geschätzt werde, weil mein Speck mich im Gesicht recht faltenfrei hält.
Heute, mit über 40, bin ich ziemlich nah dran am Traum von »Beruf = Berufung«. Vor einiger Zeit habe ich die Firma verlassen, die mir als Startup selbst den Start ermöglicht hat, um mich voll dem Thema Antidiskriminierung zu widmen. Und dabei helfen mir plötzlich all die weniger schönen Erfahrungen in der Berufswelt. Manchmal bekommt im Rückblick eben auch das Unangenehme im Leben einen Sinn.
Protokoll: Sara Peschke