»Hör auf zu jammern und beweg deinen Arsch!«
»Immer diese Ausreden, dass Krankheiten am Übergewicht schuld seien anstatt fehlender Selbstdisziplin.«
»Ernährung umzustellen und Sport zu treiben wäre ja auch minimal Anstrengend und erfordert Selbstdisziplin. Da haben die Fetten kein Bock drauf!«
Die Sätze, die Sie soeben gelesen haben, haben mir in jüngster Zeit verschiedene Menschen an den Kopf geworfen. Menschen, die mich nicht kennen und trotzdem meinen, vieles über mich zu wissen. Weil ich dick bin. In ihren Augen ein klares Zeichen dafür, dass es mir an Disziplin mangelt. Dicke Menschen sind faul, maßlos, zu dumm, um sich »richtig« zu ernähren, und damit selbst schuld an ihrem hohem Gewicht - so der weit verbreitete Gedanke. Mich wundert das nicht wirklich, schließlich hat für die Werbewelt jeder von uns den »Alles-ist-machbar-Körper«. Die Person auf dem Nachher-Bild, mit dem für die neuste Trend-Diät geworben wird, das könnten Sie sein. Oder ich. Wir alle. So wird es uns verkauft.
Ein Nach-Nachher-Bild ist hingegen ziemlich selten zu sehen, und das aus gutem Grund. »Wir wissen, dass 80 bis 90 Prozent aller Gewichtsreduktionsprogramme keinen Erfolg bringen – oft sind die Teilnehmer am Ende sogar schwerer als vorher.« Der Satz stammt aus einem Interview mit dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Wer ein Abnehmprogramm »nicht durchhält«, ist also nicht allein. Ich setze das »nicht durchhalten« ganz bewusst in Anführungszeichen. Die Formulierung ist in meinen Augen eine Schuldzuweisung, und zwar eine, die nur eine Richtung kennt: Der Mensch hat mangels Disziplin versagt, nicht das Programm. Eine Studie der Max-Planck-Gesellschaft aus dem vergangenen Jahr belegt, wie weit verbreitet dieses Denken ist: »Obwohl Experten für die weltweite Zunahme von stark übergewichtigen Menschen hauptsächlich veränderte Umweltbedingungen verantwortlich machen, gibt die breite Öffentlichkeit dem Einzelnen die Schuld an seinem Übergewicht«, heißt es darin.
Nach Ansicht vieler Menschen ist es doch so einfach, sie sagen Dinge wie: »Wer abnehmen will, kann auch abnehmen. Einfach mal am All-you-can-eat-Buffet ein bisschen zusammenreißen.« Immer, wenn ich so eine »Weisheit« höre, muss ich an Sätze denken wie »Wer arbeiten will, findet auch Arbeit« oder »Jeder hat in Deutschland die Chance, Karriere zu machen«. Sätze, die hängen bleiben, weil sie einfach sind. Sie ignorieren allerdings, dass wir alle mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen starten.
Ich weiß schon, was nun einige denken: Nichts als Ausreden!
Bleiben wir zur Erläuterung kurz beim Thema Arbeit. Bei gleicher Qualifikation wird Tim Schultheiß mit seinem deutsch klingenden Namen deutlich leichter einen Arbeitsplatz finden oder Karriere machen als Hakan Yilmaz. Das legt die Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration nahe, die sich diese beiden fiktiven Personen ausgedacht und in ihrem Namen Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz versandt hat. Der Satz »Wer arbeiten will, findet auch Arbeit« wird in Yilmaz’ Ohren wie blanker Hohn klingen.
In den Ohren vieler dicker Menschen hat »Wer abnehmen will, kann auch abnehmen« denselben Klang. Denn die Liste der Faktoren, die unser aller Gewicht beeinflussen, ist lang: Genetische Veranlagung, hormonelle Erkrankungen wie eine Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion oder Nebenwirkungen von Medikamenten sind nur ein paar davon. Und, völlig unterschätzt: Stress. Ich selbst kann neben einiges einen Haken setzen. Während ich beim Stress genau weiß, warum ich mir den antue und ihn nicht reduzieren kann und will, würde ich die Schilddrüsenunterfunktion gern von der Liste streichen. Die senkt nämlich das Aktivitätslevel meines gesamten Organismus; ohne Hallo-Wach-Tabletten verbringe ich den Tag im Zombie-Modus.
Ich weiß schon, was nun einige denken: Nichts als Ausreden! Aber eine Rechtfertigung für die Existenz des dicken Körpers ist nicht mein Punkt. Die sollte niemand erbringen müssen. Mir geht es um die Erkenntnis, dass es Menschen mit unterschiedlichem Gewicht gibt. Es verbirgt sich eben nicht in jedem dicken Mensch ein dünner Mensch, der sich mit einem Salatblatt oder durch einen Personal Trainer hervorlocken lässt. Das musste in meinen Kopf aber erst mal einsickern. Als Teenie habe ich mich von der Diät- und Fitnessindustrie ebenfalls eine Zeit lang fremd-disziplinieren lassen - und versucht, vor meinem dicken Ich davonzulaufen. Im Park nebenan, fast täglich und bei jedem Wetter, auch in der Sommerhitze. Bis ich irgendwann auf dem Sandweg aufgewacht bin. Ich war ohnmächtig geworden.
Und ich werde nie vergessen, wie mir eine gute Freundin erzählt hat, dass sie jede Menge eingelegtes Gemüse angeschafft hat - viel Wasser, kaum Kalorien. Heißhunger? Einfach ein bisschen Spargel aus dem Glas. Einige Monate später gingen ihr die Haare aus. Übermäßiges Training und restriktives Essverhalten bis hin zur Magersucht gibt es nämlich in allen Gewichtsklassen, wenngleich man das nicht immer auf den ersten Blick sieht.
Ich habe die Kampfhandlungen gegen mich selbst vor einiger Zeit eingestellt. Mein Körper und ich setzen auf Teamwork, schließlich brauche ich alle Disziplin und Kraft für die politische Arbeit. Die verlangt nämlich niemand von mir - außer ich selbst.
Protokoll: Sara Peschke