»Aufgabe 5: Entfernen Sie sämtliche Sommersprossen aus dem Portrait und verringern Sie die Falten.« Ich schaute in den Prüfungsordner meines Photoshop-Kurses, den ich vor einiger Zeit als Weiterbildungsmaßnahme belegte, und fand das Bild einer rothaarigen Frau. Wie Sterne am Nachthimmel waren die Sommersprossen auf ihrem Gesicht versprengt. Klick für Klick verblassten die Sprossen durch den Bereichsreparatur-Pinsel. Es fühlte sich absurd an. Was gab es da zu reparieren? Die Sommersprossen - das war sie. Mit jedem Klick ging ein Teil von ihr unter meinen Händen verloren. Die Falten füllte ich mit der Hautstruktur, die wenige Pixel daneben lag, mit dem Weichzeichner verschwanden feine Äderchen und Poren. Und voilà: Vor mir schwebte ein weiterer austauschbarer Photoshop-Engel, so wie er auf jedem x-beliebigen Werbeplakat an einer Bushaltestelle hängen könnte.
Oft stehe ich vor diesen Plakaten und warte auf das Leuchten. Nicht auf das der Neonröhren hinter dem Plakat, sondern auf das innere Strahlen der abgebildeten Person. Denn Schönheit ist für mich wie Licht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde dieses Licht in den Plakaten nicht. Im Gegenteil, ich stehe im Schatten einer perfekten Schönheit. Von oben blickt sie streng auf mich herab: »Na, hast du auch so feine Poren?« Ja, hab ich. »Keine Pickel?« Aktuell: Ja. »Keine Augenringe?« Ich müsste mal wieder ausschlafen. »Langes, dichtes Haar?« Nein. »Groß?« Nun, aus Sicht eines Dackels schon. »Schlank?« Okay, ich bin raus.
Ich erfülle die Checkliste des gängigen Schönheitsideals einfach nicht. Das habe ich bereits lange vor dem Photoshop-Zeitalter begriffen: durch meine Schwester. Obwohl wir dieselbe Mutter haben, könnten sie und ich nicht unterschiedlicher aussehen. Meine Schwester ist acht Jahre älter und fast zehn Zentimeter größer als ich. Sie ist schlank, hat blonde, lange Haare und ihr einziges vermeintliches Beauty-Problem ließ sich mit dem Wechsel von einer Brille zu Kontaktlinsen lösen. Ich dagegen hatte schon immer einen runden Bauch und mit der Pubertät wurden meine Haare so fein, dass ich heute die gleiche Frisur wie Bruce Willis trage.
Wenn ich mich früher mit meiner Schwester verglich, bekam ich zwangsläufig das Gefühl, mein Körper sei eine einzige Baustelle – und die Liste der ToDos länger als die für den Berliner Flughafen. Sich täglich wie ein Mängelexemplar fühlen? Nö. Nicht mit mir. Ich beschloss, mich dem ganzen Gewese zu entziehen und meine kreative Energie in andere Dinge zu stecken. Ins Theaterspielen zum Beispiel, wo ich mit Hilfe von Make-up in viele verschiedene Rollen schlüpfte. Schönheit hingegen war eine Rolle, die mir einfach nicht auf den Leib geschrieben war, die ich nicht füllen könnte.
Durch meinen Abschied von der Schönheit habe ich eine Sache nie kennengelernt: Körperhass. Was für ein großes Geschenk das war, habe ich erst Jahre später erkannt; als Jugendliche löste das meine Probleme (noch) nicht. Denn was mir einerlei war, war für mein Umfeld etwas sehr Wichtiges, ja sogar ein verbindendes Element. Wenn meine Mutter und meine Schwester gut gelaunt und mit prall gefüllten Taschen vom Shopping nachhause kamen, verrieten mir die Logos auf den Tüten, dass sie in Geschäften gewesen waren, in die meine Mutter mit mir nie einen Fuß gesetzt hätte. Wozu auch? Mir hätte dort nichts gepasst. Und das ist vielfach so gewollt.
Es hat deshalb lange gedauert, ehe ich körperliche Schönheit wieder in mein Leben ließ.
Damals war das eher ein stiller Konsens unter den Labels, heute bekennen sich Firmen wie Abercrombie & Fitch öffentlich dazu: »Wir sind auf coole, gut aussehende Leute aus. An andere wollen wir gar nicht verkaufen«, sagte der Firmenchef vor einigen Jahren. Meine Mutter und meine Schwester verband, dass sie zu dieser Gruppe gehörten. Sie hatten sichtlich Spaß daran, gemeinsam in eine Produktwelt abzutauchen, die sich um etwas drehte, was mich ausschloss. Denn wer für Abercrombie & Fitch nicht gut aussieht, lässt sich anhand der Konfektionsgrößen in den Geschäften ablesen - dicke Menschen. Diese Meinung teilen übrigens viele: Laut dem XXL-Report der DAK finden 38 Prozent der deutschen Bevölkerung dicke Menschen unästhetisch, und wenn es um meine Gewichtsklasse geht, sind es sogar 71 Prozent.
Es hat deshalb lange gedauert, ehe ich körperliche Schönheit wieder in mein Leben ließ, so weit hatte ich das Thema von mir weggeschoben. Ich war inzwischen Anfang 20 und studierte Kunst. In einem Kurs für Aktzeichnen entdeckte ich das innere Strahlen, nach dem ich so lange gesucht hatte. Es begann damit, dass ich mich immer wieder an Stellen festzeichnete, die nicht dem entsprachen, was als Norm gilt. Ich erinnere mich an ein weibliches Aktmodell, das obenrum Konfektionsgröße 48 und untenrum Größe 40 trug. Der Unterschied faszinierte mich. Ich genoss es, die Individualität dieser Frau anhand ihrer Körperlinie nachzuzeichnen. Ein anderes Mal war es die markante Nase des Modells oder die Rhythmik, die in der Körperbehaarung lag.
Durch das Zeichnen dieser Besonderheiten entfaltete sich vor mir ein völlig neues Konzept von Schönheit: Individualität. In dieser Form der Schönheit steckte kein Konkurrenzgedanke, keine engelhafte Unerreichbarkeit. Es ging auch nicht länger um die Selbstoptimierung anhand einer Checkliste, die der Schönheitsindustrie die Taschen füllte. Sondern in diesem Konzept war jeder Mensch eingeschlossen, auch ich selbst. Es gibt einen Satz von Christian Morgenstern der diesen Blick auf die Dinge bestens beschreibt: »Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.« Dem kann ich nichts hinzufügen.
Protokoll: Sara Peschke