Hört auf, auf meinen Teller zu glotzen

Wenigstens das Weihnachtsfest sollte frei sein von Kalorienzählen und schlechtem Gewissen, fordert unsere Kolumnistin. Ein Plädoyer für mehr Genussfähigkeit.

Foto: Nikita Teryoshin

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an Weihnachten denken? Der Tannenbaum? Geschenke? Oder Gänsebraten mit Klößen? Früher galt mein erster Gedanke dem Tannenbaum. Ich werde nie vergessen, wie sich meine Eltern in der Vorweihnachtszeit einmal so stritten, dass meine Mutter die noch verschnürte Tanne vor Wut vom Balkon warf. In dem Jahr haben mein Vater und ich Weihnachten im Campingwagen verbracht, mit einem 40 Zentimeter hohen Plastikbäumchen statt einer 3-Meter-Nordmanntanne. Seitdem ist ein Weihnachtsbaum im Ständer für mich ein Zeichen dafür, dass es mit dem Familienfrieden in diesem Jahr geklappt hat.

Heute gilt mein erster Gedanke immer häufiger dem Gänsebraten. Allerdings nicht, weil ich mich selbst darauf freue (was ich fraglos tue), sondern weil sich der Festschmaus schon Wochen vor Weihnachten wie eine Unwetterwolke aus Kalorien über einigen Menschen aufzutürmen scheint. Diese gefühlte Bedrohung äußert sich dann in Sätzen wie: »Weihnachten, schön und gut, aber immer diese Völlerei! Also ich habe mir vorgenommen, dieses Mal an den Feiertagen ein bisschen kürzer treten.« Wenn ich das höre, drängen sich mir gleich mehrere Fragen auf: Ist die Fülle nicht ein wichtiger Bestandteil eines Festes, egal ob Weihnachten oder Geburtstag? Und das Jahr hat 365 Tage, also sehr viele, an denen jeder mit dem Essen »kürzer treten« kann, der das möchte - warum also ausgerechnet an den Feiertagen?

Wenn der letzte Kloß zwar gut geschmeckt, aber nicht mehr gut getan hat, bin ich beim »Kürzertreten« voll dabei. Wenn es um »Weihnachtsbraten auf die leichte Art« geht, nicht. Eine Putenbrust im Gewand einer Gänsekeule bleibt eine Putenbrust, und eine Sauce kann noch so gut sein - Milch macht sie einfach nicht so cremig wie Sahne und lockt auch den Geschmack der Zutaten nicht so herrlich hervor. Geben Sie in eine Suchmaschine einmal »Schlemmen ohne Reue an Weihnachten« ein, und Sie bekommen auf einen Schlag Tausende von Tipps, wie Sie kalorienreduziert durch die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr kommen. Puh.

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Ein gern gegebener Ratschlag: Zum Ausgleich der »Sünde« muss ein verlängerter Nachmittagsspaziergang her. Oder: Sich bei der einen Sache maßregeln, damit man sich von der anderen Sache etwas »erlauben« kann. Dieses erlernte Denken hat zur Folge, dass ich bei uns am Familien-Kaffeetisch schon von den Jüngsten gehört habe: »Ein Stück Kuchen darf ich noch, ich habe die ganze Zeit nur Cola Light getrunken.« Wo das schlechte Gewissen mit am Tisch sitzt, ist für Genuss kein Platz mehr frei. Deshalb sage ich: Wenn Genuss, dann richtig. Ohne Kompromisse.

Dicke Menschen mit dieser Einstellung werden oft schräg angeschaut, denn viele erwarten ja insgeheim von ihnen, dass sie auf Diät sind - oder finden, dass sie es sein sollten. Natürlich auch und gerade an Weihnachten, wenn all die »bösen Kalorien« an jeder Ecke lauern. Ich erinnere mich an ein Familientreffen zur Weihnachtszeit, das so aber auch am Geburtstag meiner Schwester oder zu Ostern hätte stattfinden können. Meine Cousine und ich saßen auf der Couch und plauderten, als meine Schwester vorbeikam. »Na ihr zwei, welches Stück Kuchen kann ich Euch anbieten?« Meine Cousine wählte die Pariser Apfelschnitte, ich war gerade nicht in Kuchenlaune. »Danke, erstmal nichts.« »Na komm schon, Natalie, ein Stück Kuchen!« Der Zwischenruf kam vom Lebenspartner meiner Schwester, der zu jenen Menschen gehört, die andere gern dazu nötigen, noch etwas zu trinken oder zu essen. Ich bin dabei seine Favoritin. Als dicke Frau passe ich mit einem Stück Kuchen oder einem Teller Nachschlag in der Hand einfach viel besser in sein Weltbild.

»Nein, danke«, wiederholte ich. »Machst du eine Diät?« Meine Schwester sah mich erwartungsvoll an. »Ja« wäre die Antwort gewesen, die mir jede weitere Diskussion erspart hätte. Stattdessen entgegnete ich in leicht entrüstetem Tonfall: »Nein«. »Aber Du willst doch eine Diät machen, oder?« »Nein. Ich will Platz für den Braten nachher lassen.« Die Wahrheit war das nicht, doch für ein Kurzreferat über die Nutzlosigkeit von Diäten und die langfristige Zunahme Dank Jojo-Effekt bin ich auf Familienfesten meist nicht in Stimmung. Ihnen lege ich meine Meinung und Erfahrungen dazu aber gerne in einer der kommenden Folgen dar.

Meine Schwester zog sichtlich irritiert mit der Kuchenplatte weiter. Und ich fragte mich einmal mehr: Warum können wir uns noch nicht mal an Festen und Feiertagen davon frei machen, mit unseren Gedanken ständig ums Essen zu kreisen (und damit meine ich nicht die Vorfreude auf den Gänsebraten oder ein vergleichbares Menü, das bei den meisten von uns nur einmal im Jahr auf den Tisch kommt)? Ich bin es gewohnt, dass Mitmenschen mit prüfendem Blick auf meinen Teller spähen. Das schätze ich generell nicht, aber in der Weihnachtszeit kommt noch etwas hinzu: Es stiehlt mir etwas von der Festlichkeit.

Lassen Sie uns uns doch uns gemeinsam zu dem Gedanken bekennen, dass wir an Weihnachten nicht zusammenkommen, um mit Gänsebraten abzunehmen, sondern um ihn zu genießen. Weil wir doch selten genug mit der ganzen Familie oder Freunden an einem Tisch sitzen, um es uns einfach nur gut gehen zu lassen. Lassen Sie uns uns verabschieden vom schlechten Gewissen als ständigem Begleiter an diesen Tagen - denn aus dem schlagen längst andere Kapital: In den Discountern stapeln sich ab Neujahr die Trimmdich-Geräte für zuhause, Fitnessstudios locken mit günstigen Angeboten und in den Fenstern der Apotheken werben grüne, mit Maßbändern umwickelte Äpfel für Abnehmshakes. Nachhaltig ist dieser Aktionismus selten, denn ein schlechtes Gewissen macht weder dauerhaft Lust aufs Laufband, noch auf Vanilledrinks mit kreideähnlicher Beinote.

Deshalb würde ich vielen lieber etwas anderes auf die Liste der guten Vorsätze schreiben, nämlich sich in Genussfähigkeit zu üben. Und zwar noch auf die für dieses Jahr!

Protokoll: Sara Peschke