Es gab wohl kein Jahr, in dem wir eine so persönliche Beziehung zu »unseren« Nachrichtensprecher*innen aufgebaut haben wie in diesem. Zur Zeit des Corona-Verunsicherungshochs Mitte März dürften so manche von uns die Maximalanzahl von möglichen Tagesschauen pro Tag (inklusive Nachtmagazin, plus »Tagesthemen« und zahlreiche ARD-Brennpunkte) durchgeguckt haben. An Tagen, an denen man sonst nur herzlich wenige Menschen zu Gesicht bekam, machten die Vortragenden dieser Nachrichten einen ganz schön hohen Anteil aus. Kein Wunder also, dass es am Montagabend emotional wurde, als Jan Hofer, Chefsprecher der »Tagesschau« und dort im Amt seit 1985, seine letzte Sendung moderierte.
Gegen Ende gab es einen von Kollege Jens Riewa angekündigten Rückblick auf Hofers Karriere bei der ARD, ganz zum Schluss legte dieser theatralisch seine Krawatte ab und bewies damit, was wir bisher nur aus einem Anfang 2019 von ihm veröffentlichten Tweet wussten: »Nein [...], mein Schlips ist nicht angewachsen und nein, im Studio trage ich keine kurzen Hosen.«
#Ehrenjan (wie er zuletzt in zahlreichen Dank- und Abschiedsnachrichten genannt wurde) hat in seinen 35 Dienstjahren nicht nur mit seiner Stimme, sondern auch seiner Kleiderwahl für Beständigkeit im deutschen Fernsehen gesorgt. Der klassische Hofer – Anzug, helles Hemd, Krawatte – präsentierte sich, man sah es im Rückblick, über die Jahre in den verschiedensten Aufzügen, mal mit zusätzlicher Weste, mal mit Einreiher-, mal mit Doppelreiher-Sakko. Kernstück blieb dabei stets: die sorgfältige farbliche Abstimmung von Anzug und Krawatte sowie Einstecktuch.
Krawatten unterlägen bei ihm einem sehr hohen Verschleiß – einerseits, da sie aufgrund des Make-ups am Set immer so schnell Flecken bekämen, andererseits wegen der sich rasant ändernden Krawattenmode. »Eine zwei Jahre alte Krawatte kann ich nicht mehr anziehen«, sagte er 2015 im Interview. Seine bedachte Krawattenwahl war auch Gegenstand des ersten Videos, mit dem die Tagesschau im November 2019 erfolgreich auf TikTok startete – der den sozialen Medien zugetane Hofer experimentiert darin mit verschiedenen Modellen und entscheidet sich schließlich für eines mit ARD-Logo.
Nur einmal war der Sprecher bei seinem Abstimmungsprozess vermeintlich unaufmerksam – in den 20-Uhr-Nachrichten vor dem WM-Finale Deutschland gegen Argentinien 2014 trug Hofer einen leuchtend hellblauen Schlips zum weißen Hemd – und setzte damit in den Augen einiger ein textiles Zeichen gegen das Heimteam (gewonnen hat es bekanntlich trotzdem).
Von Nachrichtensprecher*innen wird erwartet, ein unbeschriebenes Blatt zu sein – jede Sendung aufs Neue. Im Gegensatz zu Kommentator*innen überbringen sie die reine Nachricht, keine persönliche Haltung. Und während Jan Hofer auf seinem launigen Instagram-Accout im Privatleben durchaus mal in Lederjacke, kurzer Hose oder mit freiem Oberkörper zu sehen ist, bot ihm seine beständige Arbeitskluft stets die nötige Neutralität für seinen Job. Was für Fußballer*innen mit uniformen Trikots die Frisuren sind, sind für Hofer die Accessoires, also Krawatte, Einstecktuch, Armbanduhr und Brille: Nur an diesen ausgewählten Stellen kann er, wenn überhaupt, »modisch« sein.
Dass gelegentlich auch die Beine der »Tagesschau«-Sprecher*innen zu sehen sind, wurde übrigens erst 2015 eingeführt – und muss sich damals angefühlt haben wie es das Ende des Home Offices in ferner Zukunft einmal tun wird: eine plötzliche Notwendigkeit, nicht mehr nur seine obere Körperhälfte ordentlich zu bekleiden und damit in Video-Calls angemessen aufzutreten. Neben dem ständigen Krawattenkauf ist auch das jetzt kein Problem mehr für Hofer – er dürfte nun besten Gewissens (wieder?) zu uns in die Jogginghosen-Fraktion wechseln.
Wird getragen mit: Hornbrille, Tagesschau-Gong, Seriosität, Neutralität
Nicht verwechseln mit: John Bercow
Größte Bedrohung: Weiberfastnacht
Der Song dazu: Justin Timberlake, »Suit & Tie«