Wäre die Lage im britischen Unterhaus nicht so dramatisch wie traurig, man könnte sich bei den Sitzungen auch gut unterhalten fühlen. Beobachtet man das Treiben im House of Commons, wo sich alle Abgeordneten wie auf übervollen Stadionbänken drängeln, gegenseitig leidenschaftlich ins Wort fallen und lautstarke Zustimmungs- oder Ablehnungsbekundungen zurufen, fühlt man sich versetzt in die Zeit einer frühkapitalistischen Börse oder auf einen Marktplatz voller Feilscher und Schnäppchenjäger, kurz vor Ende des Geschäftstags. Hier, so hat man das Gefühl, erzeugt Politik noch echte Emotionen.
Ein Marktschreier fällt dabei besonders auf: John Bercow, seit 2009 Sprecher im Unterhaus. Als überparteilicher Leiter der dortigen Sitzung legt er fest, über welche Änderungsanträge abgestimmt wird, wer das Wort ergreifen soll und wann sich alle mal wieder zur Ordnung besinnen sollen. Eine Art Wolfgang Schäuble, nur leidenschaftlicher.
Bercows sehr eigener Stil seiner Amtsführung äußert sich nicht nur in seinen berühmten, gebieterischen »Orrr-deeer«-Rufen oder seiner übertrieben gekünstelten und ornamentalen Sprache (»Split infinitive!«), sondern auch in seinen modischen Entscheidungen. Bei seinem Amtsantritt entschied er einerseits, keine Perücke zu tragen (bis 1992 war das noch üblich), sondern auch, sich komplett von dem traditionellen Dresscode des Speakers zu befreien (zu dem unter anderem Kniebundhosen, Seidenstrümpfe und Hofschuhe mit Schnallen unter der Robe gehören), da dieser für ihn »eine Barriere zwischen dem Parlament und der Öffentlichkeit« erzeuge. Stattdessen trägt Bercow lieber übliche Anzüge – mit unüblichen Krawatten. Seinem Sortiment an kunterbunten und wildgemusterten Exemplaren wurde sogar ein eigener Tumblr gewidmet. Der letzte Eintrag stammt allerdings leider von Oktober 2016 – obwohl es seit dem so viel gutes Futter gegeben hätte! Etwa die Regenbogen-Krawatte, die er vergangene Woche bei der Ablehnung von Theresa Mays Brexit-Deal trug. Möchte er uns damit etwas sagen? Vielleicht ja.
Bercow polarisiert und hat viele Kritiker. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, Mitarbeiter zu mobben und – anders als das Amt es vorsieht – nicht unparteiisch zu sein (an seinem Auto, angeblich dem seiner Frau, klebt ein Anti-Brexit-Sticker). Manche Abgeordnete fordern seinen Rücktritt, und tatsächlich könnte er nach 230 Jahren der erste Unterhaus-Sprecher sein, der nach seiner Amtsausscheidung nicht ins Haus of Lords aufgenommen wird. Zu Beginn seiner politischen Karriere positionierte er sich am rechten Ende der Konservativen Partei und forderte einst sogar die »unterstützte Rückführung« von Immigranten – eine interessante Haltung für einen Enkel eines jüdisch-rumänischen Einwanderers. Später schwenkte seine politische Meinung nach links, er heiratete seine Frau Sally, eine Labour-Aktivistin und selbst Objekt der britischen (Klatsch-)Presse, die sich sogar für eine Staffel von »Celebrity Big Brother« verpflichten ließ.
Steht seine wilde Krawattenwahl für genau diese persönlichen Widersprüche? Ungezwungen in seiner Kleider-, aber hochgestochen in seiner Wortwahl, konservativ, aber liberal? Der Farbreichtum um seinen Hals scheint zu sagen: »Ich lege mich nicht fest.«
Mit seiner schroffen Art hat es Bercow zuletzt im Ausland zu unerwartetem Ruhm gebracht. Der Sender Radio France Internationale nannte ihn den »Europäer der Woche« und ein Clip der Tagesschau, der einen Zusammenschnitt von Bercows »Ordeeer«-Rufen zeigt, wurde zum viralen Hit. Scheint, als habe man in Anbetracht der meist doch eher dröge wirkenden Bundestagessitzungen hierzulande Bedarf an etwas mehr Entertainment auf dem politischen Parkett. Vielleicht sollte man dort mal die Stühle zusammenrücken. Oder doch erst mal mit bunten Krawatten starten.
Wird getragen von: pfiffigen Sparkassenmitarbeitern in den 80er- und 90er-Jahren
Wird getragen mit: Launenhaftigkeit, schwankenden Meinungen
Der Song dazu: New Order, Blue Monday