Giftgrün sind die Nägel, passend zum Einband: Bei dem neuen Buch von Margaret Atwood namens »The Testaments« sind die Roben der Mägde nämlich nicht mehr Rot wie beim Vorläufer »The Handmaid’s Tale«, sondern jetzt offensichtlich Grün. Also trug die kanadische Schriftstellerin bei der Präsentation in London den passenden Lack dazu. Eigentlich war alles dort ziemlich Grün: die Bluse, die Ohrringe, die Plakate, die Cupcakes. Wichtige Buchpräsentationen werden mittlerweile von ähnlich vielen Werbemitteln begleitet wie früher die Verkostung neuer Frischkäse-Geschmacksrichtungen im Supermarkt.
Aber womöglich spielt Nagellack auch in der Fortsetzung wieder eine Rolle. Die Hauptfigur Offred – zur Gebärmaschine degradiert und unterdrückt – erinnert sich im ersten Roman sehnsüchtig an den Geruch davon, »the smell of nailpolish«. Daran, wie er sich »kräuselte, wenn man die zweite Schicht zu früh darüber pinselte«. Erinnerungen an eine ferne Zeit, in der Frauen noch so banal-normale Dinge wie Maniküre tun konnten.
Das waren tatsächlich noch Zeiten: »The Handmaid’s Tale« erschien 1985. So dystopisch und erschreckend zeitgemäß Atwoods Zukunftsentwurf sein mag – auf die Theorie, dass es gut 35 Jahre später nicht mehr nur um ein oder zwei Schichten bei der Maniküre gehen würde, wäre wahrscheinlich keiner gekommen.
Was unter dem Hashtag #nailart da draußen gerade so gepinselt und geklebt wird, grenzt für manche Mütter ebenfalls an eine Horrorvorstellung. Kylie Jenner trägt manchmal Schmetterlinge auf den Dreieinhalb-Zentimer-Krallen, Cardi B lässt sich ihre bisweilen von der »Celebrity Nail Artist« Jenny Bui @nailson7th mit Swarovskisteinen umranden, das Video zum Song »Aute Cuture« der spanischen Sängerin Rosalía ist eine einzige Hommage ans Nagelstudio. Sie selbst trägt gern mal goldene Nagel-Prothesen wie bei Edward mit den Scherenhänden. Ariana Grande traf sich kürzlich mit Barbra Streisand und postete erstmal ein gemeinsames Mafie, ein Manicure-Selfie.
Schon klar, wenn es mit den Tattoos langweilig wird, macht man auf den Nägeln weiter. Beauty in allen Schattierungen boomt sowieso, schon vor Jahren standen ausgewachsene Frauen stundenlang Schlange, um einen neuen Farbton von Chanel-Lack zu ergattern. Aber wann genau ist uns das so dermaßen über den Kopf gewachsen? Seit wann sind Nägel jenseits der drei Zentimeter nicht nur beautysalonfähig, sondern für weite Teile der weiblichen Bevölkerung total erstrebenswert?
Das Problem mit den Dingern ist ja: Wenn man nicht gerade Model oder Sängerin ist, wo die Hände vor allem ein Mikro halten müssen, und der Rest von modernen Mägden genannt »Personal Assistants« erledigt wird - wie genau soll man mit solchen Nägeln ein normal-banales Leben bestreiten? Jeans zuknöpfen, Waschmaschinen-Tabs aus der Folie fummeln, Windeln zukleben ohne das Kind am Oberschenkel aufzuschlitzen. So Zeug eben.
Die viel näher liegende Dystopie ist wahrscheinlich: Sämtliche Handarbeiten werden in der Zukunft von Robotern erledigt, statt Whatsapp zu tippen werden vollends nur noch diese Sprachnachrichten verschickt – und wenn irgendwem ein sündhaft teurer Nagel abbricht, ist der Schrei im ganzen Land zu hören und geht den anderen Frauen durch Mark und Bein. Wer keine Nailart trägt, kann sich also entweder keinen Roboter und/oder keine gehobene Maniküre leisten.
Womöglich wollte Atwood gar nicht nur den mottomäßigen grünen Lack zeigen, sondern ihre vergleichsweise kurzen Nägel hochhalten – das Erkennungszeichen der noch mit den Händen arbeitenden Frau.
Wird auch getragen von: Cardi B, Hailey Bieber, früher von Florence Griffith Joyner,
Typischer Instagram-Kommentar: 💅
Das sagt der Leser: »Die Fortsetzung ist also das Gleiche in Grün..?«