Erstaunliche Erkenntnis aus der gerade laufenden Rote-Teppich-Saison: Männer sind hier auf einmal die viel interessantere Spezies. Zunächst trug der Schauspieler Timothée Chalamet bei den Golden Globes etwas über dem schwarzen Hemd, das auf Social Media eindeutig als »harness« identifiziert wurde – eine Art Zaumzeug, das sonst eher im SM-Bedarf verortet wird. Die Aufregung war entsprechend, sagen wir, zügellos.
Weil Männern, im Vergleich zu ihren Kolleginnen, bei solchen Veranstaltungen bedauerlicherweise nur selten die Investigativ-Frage »What are you wearing?« gestellt wird, äußerte sich der 23-Jährige erst Tage später in der Talkshow Ellen zum vieldiskutierten Accessoire, das wie die restliche Garderobe übrigens aus dem Hause Louis Vuitton stammt. An »harness« habe er nie gedacht, er glaubte, es handele sich um ein »embroidered bib«, also ein verziertes Lätzchen. »Das ist jedenfalls das, was sie mir gesagt haben!«, beteuerte Chalamet.
Geniale Strategie. Das sollte sich Halle Berry unbedingt merken, falls sich mal wieder irgendwer über ihre vielleicht doch etwas zu tiefen Ausschnitte mokiert. »Kann gar nicht sein! Mir haben sie gesagt, das sei eine brasilianische Burka!« Alles eine Frage der Wortwahl, dann ist die Wahrnehmung gleich eine ganz andere, bestätigen Linguisten. Virgil Abloh, der sich das Zaumzeug ausgedacht hat, wird deshalb auch nicht mehr einfach nur Designer genannt, sondern lieber Super-Disruptor der Männermode. So bekommt jede Bügelfalte mehr Fallhöhe.
Präsentiert hatte Abloh das Accessoire in seiner Laufstegkollektion vergangenen Juni. Damals dachte wahrscheinlich niemand, dass diese Dinger tatsächlich mal zum Tragen kommen würden. Genau das passiert aber gerade: Bei den SAG-Awards vergangene Woche trat nämlich der Schauspieler Michael B. Jordan aus »Black Panther« ebenfalls mit einem Gurt über dem Anzug auf. Diesmal war er sogar deutlich sichtbarer mit buntem LV-Monogramm bedruckt. Die britische Vogue verkündete daraufhin: »Ob es euch gefällt oder nicht – das ›red carpet harness‹ wird bleiben.«
Das noch Erstaunlichere an dieser erstaunlichen Entwicklung ist nun: Den meisten gefällt es. Was nicht nur damit zu tun haben dürfte, dass sich das Auge an alles gewöhnt, wenn es nur oft genug damit konfrontiert wird. Ablohs Mischung aus geschrumpfter Schwimmweste, SM-Geschirr und Halfter scheint tatsächlich einen Nerv zu treffen. Nur so übergeworfen sieht es ähnlich lässig aus wie diese Bumbags, die ja auch niemand mehr um den Bauch, sondern nur noch irgendwie über der Schulter trägt. Dadurch, dass der Lederriemen an einer Seite festgeschnallt wird, schwingt gleich ein bisschen Geheimagenten-Flair mit. Und für die praktisch Veranlagten ist im rechten längeren Ende sogar noch eine kleine Tasche integriert. Hybride Kleidungsstücke, Taschen, die mit der Garderobe verschmelzen, ist einer der ganz großen Trends dieser Saison. Mit rund 2000 Euro kosten sie dann auch gleich so viel wie beides zusammen.
Die ewige Forderung »Männer, traut euch mal was!«, die bislang ungefähr so einschlug wie der Ruf nach weniger Bürokratie in Brüssel - womöglich trägt sie ja jetzt doch noch Früchte. Einfacher anzulegen als jede Fliege ist so ein Anschnallgurt in jedem Fall.
Wird auch getragen von: Tatort-Kommissaren, Fallschirmspringern, Lara Croft
Das sagt die modische Helikopter-Mutter: »Gibt’s die auch in Kindergröße mit Leine hinten dran?«
Passender Song: »You keep me hangin’ on« (Kim Wilde)