Tennis kann manchmal ein undankbarer Sport sein. Unsere Saison beginnt jedes Jahr am ersten Januar in Australien und endet Mitte November in Singapur. Eine knapp elf Monate dauernde Odyssee, während der wir von Land zu Land reisen, jeden Morgen in fremden Hotelbetten aufwachen und spätestens im Mai vergessen haben, wie die eigene Mutter aussieht.
Jeden Montag beginnt ein neues Turnier und fast jedes Mal endet es mit einer Niederlage. Ich bin seit 2007 Tennisprofi und habe sechs Turniertitel in der Tasche. Angelique Kerber zum Beispiel ist seit 2003 professionell auf der Tour dabei und hat elf Turniere gewonnen. Man muss kein großer Mathematiker sein, um auszurechnen, dass 90 Prozent der Wochen eines Tennisspielers oder einer Tennisspielerin ohne Sieg zu Ende gehen (okay, für Roger Federer gelten andere Gesetze, aber irgendwie scheint er aus einer anderen Welt zu kommen, deswegen zählt er nicht).
Die meisten Menschen, die einen ätzenden Tag auf der Arbeit haben, fahren im Anschluss nach Hause zu ihrer Familie oder ihrem Partner, treffen sich mit Freunden auf ein Bier in der Stammkneipe - und der Stress ist zumindest für den Moment vergessen. Wenn ich einen schlechten Arbeitstag hatte, muss ich fremden Menschen mit Mikrofonen und Kameras in der Hand erklären, warum dieser Tag schlecht war. Und wenn ich das halbwegs glimpflich hinter mich gebracht habe, warten zu Hause weder Familie noch Freunde noch Partner. Sondern das leere Hotelzimmer.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe, was ich tue. Und mit dem Drumerherum habe ich mich nach zehn Jahren auch arrangiert: Die Floskeln, die ich der Presse diktiere, sind mir nicht mehr peinlich, und wenn ich frische Handtücher im Badezimmer des anonymen Kettenhotels hängen sehe, verspüre ich inzwischen eine ganz eigene Form von Glück. Ich bin nicht hier, um mich über meinen Job zu beschweren, aber ich möchte erklären, warum ich während dieser 40 Wochen auf der Tour eine besondere Art von Realitätsflucht für mich entdeckt habe.
Denn das ist als Profisportler gar nicht so einfach. Drogen fallen weg wegen der strengen Dopingregularien, denen wir unterliegen. Alkohol fällt weg, weil es die Erholung des Körpers verlangsamt. Sex fällt streng genommen nicht weg, aber entweder bin ich zu unfähig oder zu widerwillig, denn ich finde es gar nicht so einfach, an Sex ranzukommen. Auf meiner Liste der Eskapismusstrategien blieben also übrig: Literatur, Musik, Film.
Klar war, dass mein Weltfluchthelfer die perfekte Mischung beinhalten musste, um mich zu entspannen, meinen Kopf auszuschalten und gleichzeitig meine Gefühle zu wecken (nicht zu sehr, sondern eher oberflächlich, damit es nicht weh tut). Literatur ist okay, allerdings fehlt mir nach einem zweistündigen Tennismatch oft die Motivation und Kraft, ein Buch in die Hand zu nehmen und mit eigener Anstrengung zu lesen. Auch Musik fiel relativ schnell weg, weil sie meinen Gedanken zu viel Platz lässt für Selbstzweifel und Selbsthass.
Selbsthass?, fragen Sie sich jetzt bestimmt, und denken: Die hat es doch gut, jettet um die Welt! Um meinen Gemütszustand nach einer Niederlage etwas besser nachvollziehen zu können, empfehle ich Ihnen dieses Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie sollen einen Test schreiben, der darüber entscheidet, ob Sie Ihre nächsten Rechnungen bezahlen können. Sie sind super vorbereitet, haben wochenlang gelernt, Nachhilfe genommen und Akupunktur und Hypnose versucht. Dann kommen Sie in den Prüfungssaal und die Sonne scheint Ihnen direkt ins Auge, sodass Sie nichts sehen können; der Wind bläst Ihnen ständig die Zettel mit den Testfragen unter den Händen weg, und Ihr nervigster Mitschüler schlägt Ihnen jedes Mal auf die Finger, wenn Sie gerade dabei sind, eine Antwort niederzuschreiben.
Die Verzweiflung, die während dieses glorreichen Scheiterns in Ihnen aufsteigt, beschleunigt den ganzen Prozess nur noch - und in dem Moment, in dem endlich alles vorbei ist, bekommen Sie einen fetten, roten DURCHGEFALLEN-Stempel auf die Stirn gedrückt und dürfen allen Anwesenden im Raum respektvoll die Hand schütteln.
Okay, dieser Vergleich ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Was ich eigentlich sagen wollte, ist: Ich bin traurig, wütend, enttäuscht nach einer Niederlage, und tief im Inneren weiß ich, dass ich allein die Schuld trage und dass ich allein alles hätte verhindern können. Habe ich aber nicht. Und vor diesen selbstzerfressenden Gedanken muss ich mich irgendwie schützen.
Ich habe mit der Zeit herausgefunden, dass sich nichts so gut dafür eignet wie Filme. Diese Dramen, die nichts mit meinem Leben zu tun haben! Diese Emotionen, die nichts mit meinem Leben zu tun haben! Und die mich deshalb so schnell davon ablenken können, mich mit mir selbst und meinen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen. Wie oft habe ich mich schon in Noahs Arme geschmissen wie Allie in The Notebook! Wie oft habe ich schon die Freiheit vor mir gesehen wie Jack und Rose am Bug der Titanic! Und wie oft habe ich schon versucht, mich wie Penelope Cruz in jedem ihrer Filme zu kleiden...
Wenn Filmmenschen sterben, stirbt immer auch ein Teil von mir. Wenn Charaktere sich im Verlauf eines Films entwickeln, lerne auch ich irgendwie dazu, und am nächsten Morgen fühlt sich die pieksende Spitze der Niederlage schon ein bisschen stumpfer an. Wenn ich dann vor dem Spiegel stehe und mir den gleichen Hut aufsetze wie Maria Elena in Vicky Cristina Barcelona, ist alles schon wieder vergessen. Halbwegs.
Filme sind meine Rettung, meine Familie und meine Freunde in der Ferne. Und deshalb werde ich in jeder Folge dieser Kolumne auf mindestens einen Film Bezug nehmen. Ich entschuldige mich schon jetzt dafür, dass womöglich nicht jeder Film Ihren Geschmack trifft (meinen auch nicht, man kann es sich ja auch nicht immer aussuchen). Aber vielleicht inspiriert Sie ja der ein oder andere Querschläger. Also: Vorhang auf!