Das »Flore« hat an Jean-Paul Sartre nicht viel verdient. 1942 besuchte der kettenrauchende Existenzialist das Café mit der grün-weißen Markise im Quartier Saint-Germain-de-Prés zum ersten Mal, heute eine der überlaufensten Adressen von Paris. Er blieb stets lange und bestellte wenig. Ob er seine Philosophie des mauvaise foi je entwickelt hätte, wenn ihn ein Kellner ständig gedrängt hätte, seinen Tisch am warmen Ofen für neue Gäste zu räumen?
Nun ist die Zeit der Kaffeehäuser vorbei, wenn man nicht gerade in Wien lebt, oder Coworking-Cafés in Berlin einmal ausklammert. Weil sich das Konzept des ewigen, unbekümmerten Sitzens, während in der Cappuccinotasse der Milchschaum trocknet, schwer mit der modernen Gastronomie vereinbaren lässt. In deutschen Kneipen und Restaurants ist ein Trend angekommen, der sich in der eiligsten aller Städte, New York, längst durchgesetzt hat, aber auch in London und anderen Großstädten schon gängig ist: das double seating. Also das Konzept, denselben Tisch in einem Restaurant an einem Abend zwei Mal zu besetzen. Etwa um 18 Uhr für die erste Feierabend-Welle und Familien mit Kindern, und noch einmal gegen 21 Uhr für Workaholics und die Dating-Fraktion.
Manche Wirte takten die schichtweise Abfertigung ihrer Gäste noch enger, wie ein Beispiel aus München zeigt: Wer hier für den Valentinstag sechs Wochen im Voraus einen Tisch für vier reservieren wollte, bekam bei einem beliebten Italiener im Glockenbachviertel einen »Slot« von 90 Minuten zugeteilt. Schließlich bräuchte die Pizza im Steinofen nur wenige Minuten, bis der Mozzarella Blasen wirft – ein Abendessen sei in dieser Zeit locker zu schaffen. Si, claro. Schließlich lässt sich beim Kantinenbesuch in der Mittagspause auch ein Schnitzel in fünfzehn Minuten runterkriegen.
Nur, warum sollte man an einem Abend mit Freunden, an dem man im Anschluss nicht noch zu einer Veranstaltung muss, auf die Uhr schauen? Warum sollte man fürchten müssen, dass der Kellner schon vor dem Espresso und damit weit vor dem Grappa, mit der Rechnung wedelt, weil schon die nächste Gruppe wartet? In Palermo wäre nach 90 Minuten noch nicht einmal das Secondo auf dem Tisch.
In den USA wird bereits getestet, zu Stoßzeiten mehr Geld für die Mahlzeiten zu verlangen
Man versteht die Motivation der Wirte: In der Gastronomie treffen antizyklische Arbeitszeiten auf die schwer rationalisierbaren Dynamiken von Lauf- und Stammkundschaft. Gute Zutaten und gutes Personal kosten Geld, und das alles bei steigenden Mieten und strengen Auflagen. Aber als Gast kommt man ja nicht, damit der Gastwirt sein Lokal möglichst effizient auslasten kann. Man kommt auch nicht mehr allein wegen des Hungers, den kann man günstiger, schneller und einfacher mit Take Away, Lieferdiensten oder einem Käsebrot stillen.
Wer in ein Restaurant geht, der will einen besonderen Abend erleben: Endlich die Familie oder Freunde wiedersehen. Ein Rendezvous haben, bei dem man sich so hoffnungslos in seinem Gegenüber verliert, dass man gar nicht bemerkt, dass man auf den einzigen Stühlen sitzt, die noch nicht auf den Tisch gestellt wurden. Oder bierselige Gedankenergüsse, denn wie viele Start-ups gründen wohl auf wahnwitzigen Ideen, die erst nach vier Hellen und drei Schnitt aufploppten?
Abgesehen davon: Was passiert mit einem Abend, wenn man nach mitgestoppten eineinhalb Stunden, um 20.30 Uhr, aus dem Lokal komplementiert wird? Für schummriges Barlicht ist es da noch zu früh. Und man darf bezweifeln, dass sich Restaurant-Hopping durchsetzt, weil der menschliche Magen begrenzte Kapazitäten hat. Geht man also fortan freitagabends um 21 Uhr ins Bett, wie ein Grundschüler wider Willen? Sollte man dann nicht besser gleich daheim für seine Freunde kochen, wo es Nachschlag gibt, man die Schuhe ausziehen kann und die Küche immer auf hat?
Dass double seating oder triple seating die Lust am Restaurantbesuch trübt, hat man in den USA wohl bemerkt: Dort wird stattdessen getestet, zu Stoßzeiten wie an einem Samstagabend mehr Geld für die Mahlzeiten zu verlangen als beispielsweise an einem Montagnachmittag. Schließlich seien Kunden auch bereit, mehr für einen Flug in der Hauptsaison zu bezahlen.
Neulich saß ich mit Freunden beim Griechen. Kein In-Lokal, kein Chichi, kein begrenzter Slot, kein prozentualer Aufschlag, weil es Samstagabend war – dafür literweise Ouzo. Am nächsten Morgen, auf der Suche nach linderndem Ibuprofen, habe ich mir kurz gewünscht, ein Kellner hätte mich spätestens nach neunzig Minuten vor die Tür gesetzt. Ich hätte aber auch nur halb so viel gelacht.