Eigentlich war alles perfekt an diesem Abend: der Ort (ein kleiner Kiosk mit Terrasse über dem Meer), das Wetter (so warm, dass man nur einen dünnen Pulli brauchte), das Essen (frischer Fisch vom Grill). Die Bedienung war freundlich und sah lächelnd über die Olivenölpfützen auf unserem Tisch hinweg, als sie die leergeputzten Teller abtrug.
Eigentlich hätte das erste Wort, das wir auf der Heimfahrt im Auto miteinander wechselten, »fabelhaft« sein müssen oder »herrlich«. Stattdessen presste meine Begleitung ein genervtes »Boah« hervor, »länger hätte ich die nicht ausgehalten«. Und ich nickte zustimmend: »Nicht mal ordentlich Trinkgeld haben die gegeben.«
»Die«, das waren unsere Tischnachbarn gewesen, Deutsche wie wir, gerade im Rentenalter, auch sie hatten den Sonnenuntergang und den guten Fisch in dem Strandkiosk auf La Palma genossen. Wahrscheinlich hatten sie sogar in demselben Empfehlungsheftchen davon gelesen wie wir, lag ja in allen Bars und Geschäften der Insel aus, und wahrscheinlich hatte »Geheimtipp« für sie genau so verführerisch geklungen wie für uns. Und wie für die 20 anderen Touristenpaare, die die Tische auf der kleinen Terrasse besetzt hatten. Trotzdem nervte uns, dass sie da gewesen waren, sie alle, und dass sie uns – so empfanden wir es – mit ihrer Anwesenheit den Abend versaut hatten.
Nach meiner ersten reflexartigen Läster-Reaktion verstummte ich. Ich fragte mich: Warum lassen wir uns diesen perfekten Abend von irgendwelchen Urlauberklischees kaputtmachen? Oder besser: Warum machen wir ihn uns selbst kaputt, indem wir in die gängige Litanei über die miesen Angewohnheiten deutscher Touristen einstimmen? Denn: Sind es tatsächlich die anderen, die uns so nerven – oder verrät dieses Genervtsein in Wahrheit nicht viel über uns selbst?
Wir wollen im Urlaub keine anderen Touristen sehen. Und fahren doch an die Orte, an die alle anderen auch fahren: Kanaren, Thailand, Kroatien. Wir sind erbost, wenn wir unsere »Geheimtipps« mit anderen teilen müssen – und fallen doch selbst immer wieder auf diese Lockbegriffe und vermeintliche Lonely-Planet-Indie-Tipps rein. Wir tragen selbst Sandalen, komische Sonnenhüte und flatternde Gewänder, mit denen wir uns im städtischen Freibad nie zeigen würden. Wir bekommen Sonnenbrand, reden untereinander in unserer Muttersprache und versuchen, an ein möglichst authentisches Urlaubserlebnis ranzukommen, indem wir den Einheimischen auf die Pelle rücken (was sonst bedeutet das gerne referierte Qualitätsmerkmal: »Da essen sonst nur die Locals«?).
Wenn wir ehrlich zu uns sind, machen wir damit nichts anderes als jeder Tourist auf dieser Welt: Wir reisen an einen Ort, um für uns das Beste daraus zu ziehen. Um den Alltag hinter uns zu lassen, den Großstadtmief, die Reihenhaussiedlung, den nörgelnden Kollegen, den Ablageberg auf dem Schreibtisch. Wir wollen es für eine kurze Zeit schöner und besser haben als Zuhause. Wenn wir dann im Urlaub, also an unserem Fluchtort, mit dem konfrontiert werden, von dem wir eigentlich gerade Abstand nehmen: dumm gelaufen. Das nervt. Aber dafür können die anderen Urlauber nichts. Hätten wir halt in eine einsame Hütte im Allgäu fahren müssen.
Statt die Macken anderer die Macken anderer sein zu lassen, schämen wir uns lieber für sie
Okay, einige Touristen verhalten sich in den Augen anderer womöglich wirklich nicht immer ganz vorbildlich; vielleicht sind sie ein bisschen zu laut, zu arrogant, zu besitzergreifend, so wie unsere Tischnachbarn an diesem Abend, die der Kellnerin in einer selbstbewussten Mischung aus Spanisch und Schwäbisch erklärten, dass sie schon zum 27. Mal auf La Palma seien, die Vermieter der Ferienwohnung längst ihre Freunde und die Insel-Weine auch nicht mehr das, was sie vor zehn Jahren noch waren. Meine Freunde werden diese süddeutschen Urlauber sicher nicht, aber das müssen sie ja auch nicht. Worum es geht: Sie mögen mir vielleicht auf die Nerven gegangen sein, doch das Klischee vom besoffenen, Badeliegen reservierenden, Socken-in-Sandalen-tragenden Spanien-Urlauber erfüllten sie auch nicht.
Tatsächlich trifft das nur noch auf die wenigsten deutschen Touristen zu: In einer neuen Studie von Airbnb geben 16 Prozent der befragten Deutschen zu, schon einmal eine Liege mit einem Handtuch reserviert zu haben, 11 Prozent tragen Socken in Sandalen und 9 Prozent ziehen sich am Strand gerne nackt aus. Dagegen bemühen sich 64 Prozent, die Landessprache zu sprechen, und 58 Prozent wollen mit den Einheimischen und deren Kultur und Kulinarik in Kontakt treten, sich also nicht nur das All-you-can-eat-Buffett in der Bettenburg reinziehen.
Wenn das alles stimmt, sind die deutschen Urlauber also besser als ihr Ruf. Trotzdem schimpfen wir über sie und schämen uns für sie fremd, als gehöre das zum guten Ton eines deutschen Urlaubers. Man muss gar keine Vergleiche mit dem zwanghaften Lästern über die Deutsche Bahn oder die Deutsche Post ziehen, es wird auch so deutlich: Irgendwie scheinen viele von uns Deutschen uns nur so richtig lebendig zu fühlen, wenn wir unsere Umgebung nach den klassischen Feindbildern scannen und uns dagegen positionieren können. Statt die Macken anderer die Macken anderer sein zu lassen, schämen wir uns lieber für sie (vielleicht, weil wir uns selbst darin erkennen, und so einen Spiegel kann man im Urlaub wirklich nicht gebrauchen). Dass wir uns damit nicht selten die gute Laune verderben oder sogar schöne Momente wie jenen im Strandkiosk, merken wir oft gar nicht. Schuld sind in dem Augenblick ja die von nebenan.
Andere Nationen scheinen da irgendwie schlauer. Wenn Iren oder Amerikaner sich irgendwo auf der Welt begegnen, sieht es zumindest von außen immer so aus, als würden sie sich freuen. Sie prosten sich einmal zu – um dann wieder ihrer eigenen Wege zu gehen. Gut möglich, dass sie sich schnell wieder vergessen, aber so ein grummeliges Gefühl im Bauch wie wir bei unserer Heimfahrt vom Strandkiosk werden sie sicher nicht haben.
Für meinen nächsten Urlaub habe ich mir vorgenommen, ein bisschen irischer zu sein. Die anderen einfach machen zu lassen, sie notfalls zu ignorieren. Sie wollen ja auch nur dasselbe wie ich: eine gute Zeit. Über meine deutschen Mitmenschen kann ich mich daheim genug ärgern, in der U-Bahn, beim Bäcker oder im Wartezimmer beim Arzt. Das ist anstregend genug. Und vielleicht werde ich auch über den Rat eines Kollegen nachdenken, der im Herbst zu Fuß von München nach Südtirol gelaufen ist und behauptet: Bei so einem Urlaub treffe man ziemlich sicher auf niemanden, der einem auf die Nerven geht. Außer einem selbst. Aber das ist wieder ein anderes Problem.