»Viele dachten, er will nur provozieren« 

Die Literaturagentin Elisabeth Ruge liest sich durch das Neueste, was die Literatur zu bieten hat. Der Fall ihres Lebens: Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten«. Die damalige Verlegerin sah in dem Werk aus der Perspektive eines SS-Offiziers viel mehr als einen Skandal.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Wie viele Zeilen müssen Sie normalerweise lesen, bis Sie sagen können, ob Sie große Literatur vor sich haben, Frau Ruge?
Elisabeth Ruge (59): Es sind relativ wenige Zeilen, bis ich weiß, ob ich gute Literatur vor mir habe. Ob ich hingegen große Literatur vor mir habe, weiß ich erst, wenn ich das ganze Manuskript gelesen habe und merke, wie das Gelesene einsinkt. Es kann auch sein, dass ich das schnell spüre, aber dann liegt das an einem Gefühl, nicht an der Zeilenanzahl.

Wie war das bei Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten«?
Im französischen Original »Les Bienveillantes« habe ich schnell gespürt: Das ist ein ganz ungewöhnliches, ein ganz mutiges Buch, ein Buch, das Leserinnen und Leser an eine Grenze führt. Im Zentrum ein großes Thema, hier mal ganz einfach formuliert: Warum tun sich Menschen, die friedlich nebeneinander leben, auf einmal Gewalt an? Wie kann es durch die Geschichte hindurch immer wieder zu diesen menschenvernichtenden Gewaltexzessen kommen? Worin gründet diese unfassbare mörderische Triebkraft?

»Die Wohlgesinnten« erzählt die Geschichte des SS-Offiziers Max Aue und nimmt damit die Perspektive von jemandem ein, der während des Zweiten Weltkriegs Gewalt ausgeübt hat, und nicht von jemandem, der Gewalt erlebt hat. In Frankreich hatte das Buch wegen der Täterperspektive eine Debatte ausgelöst. Können Sie das Gefühl beschreiben, das Sie während des Lesens hatten?
Das war ein ganzes Bündel von unterschiedlichen, höchst widersprüchlichen Gefühlen. Man wollte weiterlesen, wurde geradezu hineingezogen. Andererseits war da das wiederkehrende Gefühl, das Buch weit von sich schleudern zu wollen.

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Um sich die deutschen Rechte zu sichern, haben Sie Jonathan Littell einen Brief geschrieben. Warum?
Von der ersten Seite an war uns klar, dass sich über dieses Buch in Deutschland einen großen Streit entfachen würde. Viele dachten, Littell will nur provozieren und damit hohe Verkaufszahlen erreichen. Manche nannten ihn sogar einen Scharlatan. Skandale sind ja oft günstig für den Verkauf – auf einen solchen Skandal wollten wir aber nicht setzen. Mit unserem Brief haben wir dem Autor signalisieren wollen, dass wir behutsam und ernsthaft mit seinem Buch umgehen wollten. Also haben wir im Brief von unserer Leseerfahrung geschrieben, warum wir dieses Buch für deutsche Leserinnen und Leser wichtig finden, wen wir uns für die Übersetzung vorstellen könnten und was uns bei der Veröffentlichung wichtig wäre.

Warum war Littell für Sie kein Provokateur?
Ich habe mich von Anfang an mit seinem Hintergrund beschäftigt. Er hatte für mehrere NGOs in Kriegsgebieten gearbeitet, in Afrika etwa oder im zerfallenden Jugoslawien. Er hatte also immer wieder erlebt, dass Menschen, die im Großen und Ganzen friedlich nebeneinander gelebt hatten, sich vom einen auf den anderen Tag hasserfüllt aufeinander stürzten. Diese Erlebnisse bilden das dunkle Zentrum seines Romans, den Ausgangspunkt. Mir schien, dass er über dieses dunkle Rätsel nachgedacht hatte.

Schreiben Sie immer einen Brief, um sich die Rechte eines Buches zu sichern?
Damals geschah das selten, so gut wie nie. Inzwischen ist es aber fast ein bisschen Usus geworden – vielleicht haben wir das mit dem Brief angestoßen. Jedenfalls hat Littells Agent in der dritten Runde der Auktion die anderen Verlage gebeten, nach unserem Vorbild einen Brief zu schreiben. Er hat mir später erzählt, dass er mit Jonathan die Briefe in einem Café in Paris durchgesehen und nach wichtigen Gesichtspunkten ausgewertet hat.

Sie bekamen schließlich den Zuschlag, obwohl Sie mit 450.000 Euro 100.000 weniger geboten hatten als der höchst bietende Verlag. Es ging also nicht nur ums Geld.
Genau. Und wir haben natürlich nicht sofort die dicken Scheine auf den Tisch gelegt. Wenn sich nur wenige Verlage für das Buch interessieren, dann gibt es keine zweite, keine dritte Runde, keine Auktion. Dann kriegt man ein Buch vielleicht auch für 15.000 oder 20.000 Euro, manchmal auch weniger. Bei Littell gab es aber mehrere  Verlage, die auf dieses Buch geboten haben.

Ihre Arbeit als Verlegerin begann nach der Auktion erst richtig. Was haben Sie aus der Debatte, wie Sie in Frankreich gelaufen war, abgeschaut?
Wir haben auf der sehr vielschichtigen Rezeption in Frankreich aufgebaut und ein Begleitbuch zusammengestellt, den sogenannten Marginalienband. Im Grunde war er unser einziges echtes Marketinginstrument. Wir haben darin ein ausführliches Interview sowie Essays von Historikern und französische Besprechungen und Auszüge aus den wichtigsten Besprechungen veröffentlicht. Wir wollten zeigen, dass die Diskussion dort in Frankreich nicht polemisch geführt worden war. Daneben haben wir auch die großen Organigramme gedruckt, die Littell selbst angefertigt hatte. Sie hingen an den Wänden in seinem Arbeitszimmer und schlüsselten die verschiedenen Ämter, Ministerien, Institutionen und bürokratischen Strukturen der Nazis auf. Er hatte sich absolut in diese Welt hineinvertieft und sie für sich systematisch erarbeitet. Wir wollten die große Ernsthaftigkeit zeigen, mit der Littell an diesem Buch gearbeitet hatte.

Nicht alle teilten Ihre Begeisterung für Littells Buch. »Das Problem liegt darin, dass Max Aue mitsamt seinem Geisteszustand 1400 Seiten lang den Nachlass des Nationalsozialismus poliert«, schrieb Die Zeit. »›Die Wohlgesinnten‹ sind ein pornographisches Werk«, schrieb die SZ.  
Ja, es gab aufgebrachte, aufgewühlte Kritiken, aber auch begeisterte. Denis Scheck urteilte beispielsweise, »Die Wohlgesinnten« seien »nichts weniger als ein Meisterwerk«. Das hielt sich in etwa die Waage. Wir wollten ja nicht, dass alle positiv über dieses Buch schreiben. Wir wollten, dass es ernst genommen wird.

Wäre es aus Ihrer Sicht denn schlecht, wenn es nur gute Kritiken gäbe?
Nein, natürlich nicht, so weit gehe ich nicht. Aber es war uns ganz klar, dass es nicht nur positive Kritiken geben würde. Unser Ziel war ein anderes: eine Auseinandersetzung auf hohem Niveau. Auch die Verrisse sollten Niveau haben. Was ich als Versagen empfunden hätte, wäre, wenn man es praktisch beiseite geschleudert und gesagt hätte: »Das ist ein Scharlatan, damit beschäftigen wir uns nicht einmal.« Und das ist nicht passiert.

Das alles ist schon über zehn Jahre her. Was haben Sie aus diesem Fall gelernt?
Ich habe gelernt, dass man viel Zeit und Ruhe braucht, um Bücher gut zu verlegen. Die braucht es einfach, um nachzudenken. Heutzutage pressiert es oft, wie man so schön sagt. Darunter leiden die Bücher. Und auch die Verlage. Vielleicht noch stärker als vor einigen Jahren.