»Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Aussage zu erlangen«

Als Staatsanwältin betreut Susanne Grasser vor allem Einbruchs- und Bandendelikte. Der Fall ihres Lebens drehte sich um eine angebliche Scheinhinrichtigung, wobei vor allem die Tatwaffe eine wichtige Rolle spielte.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Frau Grasser, Sie sind Staatsanwältin. Weiß man, was Sie tun, wenn man regelmäßig Tatort schaut?
Susanne Grasser:
Der Tatort vermittelt kein realistisches Bild von unserem Beruf. Wir fahren keinen Porsche, haben keinen Mahagoni-Schreibtisch und auch keinen Perser-Teppich. Im Tatort heißt es beispielsweise von der Polizei immer: »Ich hol mal kurz einen Durchsuchungsbeschluss vom Staatsanwalt.« Den muss man aber bei Gericht beantragen. Auch arbeiten Polizei und Staatsanwaltschaft größtenteils gut zusammen, das kommt im Tatort oft ein bisschen schräg rüber.

Was ist Ihr Lieblingstatort?
Münster, klar.

Was machen Sie, wenn Sie morgens in Ihr Büro in der Münchner Staatsanwaltschaft kommen?
Ich sichte erstmal die aktuellen Verfahren. Ich betreue als Gruppenleiterin unter anderem größere Bandenverfahren, also Einbrecher- und Betrugsverfahren. Eine Staatsanwältin vertritt, wie der Name schon sagt, den Staat vor Gericht. Dieses Bild kennt man dann aus dem Fernsehen.

Meistgelesen diese Woche:

Wie sieht ein »normaler« Fall aus, der bei Ihnen auf dem Schreibtisch liegt?
»Normale« Fälle sind in meinem Referat Einbruchsdiebstähle, da haben wir oft Fingerabdrücke oder DNA-Spuren. Bei den Banden ist es so, dass sie sich nicht nur ein Objekt aussuchen, sondern mehrere. Hier wird auch bundes- und europaweit ermittelt. Ich beurteile im Anschluss, ob der Tatnachweis reicht und beantrage Haftbefehle.

An welchen Fall denken Sie immer wieder zurück?
Das war ein Fall aus meiner Zeit als junge Staatsanwältin in der politischen Abteilung, der in der Presse später einmal als »Scheinhinrichtung« bekannt wurde. Ein junger Mann kam mit seiner Freundin zur Polizei und schilderte, dass er von der Verwandtschaft seiner Freundin misshandelt worden sei. Dieses Mädchen wohnte zwar alleine, stand aber unter Vormundschaft vom Jugendamt, man hatte sie von ihrer übergriffigen Familie entfernt. Der große Bruder hat sich trotzdem als Beschützer aufgespielt und fand nicht gut, dass der junge Mann nachts bei seiner Schwester war. Daraufhin hat er die beiden – nach deren Angaben– geschlagen, bedroht, in der Wohnung eingesperrt und Freunde hinzugerufen. Die junge Frau blieb eingesperrt, den Mann hat man mitgenommen und ins Auto gezerrt. Irgendwo in München hat man das Auto abgestellt.

Was passierte dann?
Nach den Schilderungen des jungen Mannes hat man ihm eine silberne Waffe in den Mund gehalten und abgedrückt. Es hat sich aber kein Schuss gelöst. Sie ließen ihn laufen und sagten, er solle sich von der Frau fernhalten. Der junge Mann war damals Soldat und hat sich erst nicht getraut, zur Polizei zu gehen. Erst als er seiner Arbeit nicht mehr richtig nachgehen konnte wegen der Belastung, hat er den Fall zur Anzeige gebracht. So kam das dann auf meinen Tisch.

Wieso denken Sie heute noch daran?
Das war auf vielen Ebenen ein tragischer Fall: Der Bruder, also der Angeklagte, war schon einmal als Jugendlicher verurteilt worden. Weil seine Mutter seinen Vater umbringen ließ und er Beihilfe geleistet hatte. Er war gewiss traumatisiert, aber er hatte möglicherweise auch eine niedrigere Hemmschwelle zu Gewaltdelikten. Jedenfalls war die Frage in diesem Fall: Was ist tatsächlich passiert und war das eine echte Waffe? Der junge Mann, der Geschädigte, hat ausgesagt, dass es sich ganz sicher um eine echte, silberne Waffe gehandelt hatte – er kannte sich als Soldat mit Waffen aus. Nur wegen einer Ladehemmung hätte sich kein Schuss gelöst. Der Angeklagte und seine Freunde hingegen behaupteten, es habe sich nicht um eine echte Waffe gehandelt. Man habe den Freund der Schwester lediglich erschrecken wollen.

Was macht man dann, wenn Aussage gegen Aussage steht?
Ich hatte natürlich Durchsuchungen bei den insgesamt vier Tätern veranlasst. Und plötzlich tauchte bei der Ehefrau des einen eine sogenannte Anscheinswaffe auf. Die wurde uns im Rahmen einer Durchsuchung mehr oder weniger auf dem Präsentierteller hingelegt, eine schwarze Gaspistole.

Verstehe.
Ob jetzt silber oder schwarz, wir mussten das erstmal so hinnehmen. Und dann plötzlich, das weiß ich noch wie heute: Ich saß im Büro und bekam einen Anruf aus dem Umfeld einer der Täter, der sagte: »Hören Sie zu: Die Waffe war echt.« Und es gäbe einen, der dazu Angaben machen könne. Hätte ich das beweisen können, wäre es möglicherweise um versuchten Mord gegangen, und nicht »nur« um Geiselnahme. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Aussage zu erlangen. Und sie am Ende nicht bekommen.

Sie hätten also lieber auf versuchten Mord geklagt?
Ob es tatsächlich für eine Mordanklage gereicht hätte, bleibt fraglich, aber für die Strafzumessung wäre das noch mal etwas ganz anderes gewesen. Es wäre auch für den Geschädigten etwas anderes gewesen, wenn wir ihm dieses Detail hätten glauben können.

Wissen Sie, warum der Betreffende diese Aussage dann doch nicht machen wollte?
So etwas kann man nur mutmaßen. Obwohl wir in solchen Fällen die Tatverdächtigen auf unterschiedliche Justizvollzugsanstalten verteilen, wissen wir, dass in den JVAs eine Kommunikation stattfindet. Meistens über Mitgefangene, die gelockerte Bedingungen haben.

Ärgert Sie das alles heute noch?
Wir hatten ja zu Beginn kurz über den Tatort gesprochen. Im Tatort geht am Schluss – in der Regel – alles gut aus. Der Täter wird gefasst und man kann ihm immer alles nachweisen. Und hier dachte ich mir: »Mist – hätte ich etwas anders machen können? Hätte ich nach diesem Anruf sofort den Stift fallen lassen und in die JVA fahren müssen, um den Angeklagten zu vernehmen?« Das ist im Fernsehen leichter als in der Realität, man muss den Verteidiger zuvor verständigen und so weiter. Die Frage, die man sich in unserem Beruf jeden Tag stellt, ist: Habe ich alles gemacht, um ein Verbrechen vollumfänglich aufzuklären? Man ist bei Informationen, die man nicht auf dem offiziellen Weg erlangt hat, einen Tick lang versucht, zu denken: »Kann ich das nicht doch irgendwie verwenden?« Die Antwort muss immer sein: Nein, auf keinen Fall.

Wie ist der Fall ausgegangen?
Die Täter wurden wegen Freiheitsberaubung und Geiselnahme zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Wie es den Geschädigten geht, erfahren wir nur dann, wenn sie sich in seltenen Fällen an uns wenden und sich bedanken. Das passiert manchmal nach der Verhandlung. So eine Gerichtsverhandlung ist für die Geschädigten immens anstrengend. Es gibt Verteidiger, die die Geschädigten unfassbar in die Zange nehmen. Es ist natürlich ihre Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Geschädigten in Frage zu stellen, aber manche haben mehr Geschick als andere, sensibel vorzugehen.

Sind Sie mit der Zeit gelassener geworden?
Wenn man älter wird, merkt man: Man sieht sich meistens zwei Mal im Leben. Das soll heißen, wenn der Tatnachweis beim ersten Mal nicht gelingt, kommen die Täter oft noch ein zweites Mal mit dem Gesetz in Konflikt und dann hat man vielleicht eine bessere Beweislage. Das sage ich auch unseren jungen Staatsanwälten immer wieder.

Ist das tatsächlich so, dass man sich in Ihrem Metier meistens zwei Mal im Leben sieht?
Bei unseren Tätern hier? Ganz oft. Und wenn sie nicht wiederkommen, dann hat es ja auch sein Gutes.

Warum wollten Sie eigentlich Staatsanwältin werden?
Ich möchte danach handeln, was das Gesetz für richtig erachtet. Als Anwältin wäre ich Dienstleisterin für meinen Mandanten, auch wenn ich mich selbstverständlich im Rahmen der Gesetze bewege. Sicherlich blickt man in menschliche Abgründe, aber es ist spannend, zu sehen, wie die Polizei arbeitet, und mit der Polizei gemeinsam rauszugehen. Es ist selten ein Tag wie der andere. Ich habe drei Kinder und arbeite in Teilzeit, auch das ist hier möglich.

Haben Sie eine Methode, sich nicht von den menschlichen Abgründen vereinnahmen zu lassen?
Der Austausch mit den Kollegen ist immer wichtig, besonders aber bei belastenden Verfahren. Ich kann nicht alle Fälle so nah an mich herankommen lassen wie diese vermeintliche »Scheinhinrichtung«. Dafür sind es zum einen zu viele Fälle, zum anderen hat man ja auch noch ein eigenes Leben.