Ratlos am Wagenstandsanzeiger

Unangenehm häufig fahren Züge mit »umgekehrter Wagenreihung«. Wie kommt es dazu und wie findet man beim Einsteigen trotzdem den richtigen Waggon – auch ohne Kenntnisse in höherer Geometrie?

Illustration: Nishant Choksi

Es ist nur ein kleiner Zusatz auf der Anzeigentafel, aber ich weiß, er wird diesem älteren Ehepaar Probleme bereiten. Die beiden stehen mit ihrem offensichtlich am Schalter gekauften Ticket vor dem Wagenstandsanzeiger, blicken auf ihre Reservierung, dann wieder auf die nummerierten, grün und gelb markierten Waggons auf dem Plan. Nur stimmt die Zuordnung der Waggonnummern zu den Zugabschnitten am Bahngleis heute mal wieder nicht – der ICE fährt mit umgekehrter Wagenreihung.

Die Deutsche Bahn verrät nicht, wie hoch momentan der Anteil der Fernverkehrszüge ist, die mit einer anderen Wagenreihung als der geplanten fahren. 2013 sprach eine Sprecherin mal von 30 Prozent, und meinem subjektiven Empfinden nach dürfte der Anteil seitdem nicht merklich gesunken sein. Auf ihrer Webseite erklärt die Bahn, wie es zur umgekehrte Wagenreihung kommen kann – zum Beispiel dadurch, dass ein Kopfbahnhof außerplanmäßig nicht oder zusätzlich angefahren wird. Logisch, dass dies im späteren Fahrtverlauf zu umgekehrter Wagenreihung führt. Bahnreisende wissen allerdings, dass zusätzliche oder ausgelassene Stopps an Kopfbahnhöfen quasi nie vorkommen. Als weiteres Beispiel führt die Bahn Streckensperrungen an. Wenn zum Beispiel die Strecke Nürnberg-Ingolstadt-München nicht befahrbar ist, muss der Zug über Augsburg nach München gelangen und dafür rückwärts statt vorwärts aus dem Hauptbahnhof Nürnberg ausfahren. In München kommt er dann natürlich mit umgekehrter Wagenreihung an.

Durch Verspätungen fehlt oft die Zeit, die Züge am Endbahnhof noch planmäßig zu säubern und zu wenden

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Streckensperrungen sind zwar häufiger als zusätzliche oder ausgefallene Halte an Kopfbahnhöfen, aber immer noch relativ selten. Was dagegen oft vorkommt sind bekanntlich Verspätungen – und die sind wohl auch der Grund für die Mehrzahl der Fälle, bei denen Züge mit umgekehrter Wagenreihung fahren. Die Bahn verschweigt das auf ihrer Internetseite, aber durch Verspätungen fehlt – Zugbegleitern zufolge – oft die Zeit, die Züge am Endbahnhof noch planmäßig zu säubern und zu wenden.

Als Bahnfahrer muss man mit den Folgen leben. Bekommt man rechtzeitig mit, dass der Zug, mit dem man fahren möchte, mit umgekehrter Wagenreihung verkehrt, rennt man über Bahnsteig. Bekommt man es aber nicht mit, steht man, wenn der Zug einfährt, im falschen Bahnsteigabschnitt. Um jetzt noch zum richtigen Wagen zu gelangen, ist es in der Regel zu spät, also steigt man ein und muss sich dann mit Gepäck durch einen Großteil des Zugs kämpfen. Das will ich dem Rentnerpaar ersparen. »Entschuldigung«, sage ich. »Die Angaben auf dem  Wagenstandsanzeiger stimmen heute nicht – umgekehrte Wagenreihung.« Die beiden schauen mich an, als sei ich verrückt, und gehen. Wahrscheinlich gehören sie gleich zu den Passagieren, die sich durch die Gänge zwängen müssen, um zu ihrem Platz zugelangen.

Oder sie sind Bahnprofis und halten meinen Hinweis deshalb für deplatziert. Ich jedenfalls brauchte lange, bis ich mit der umgekehrten Wagenreihung klar kam. Mein Problem waren kurioserweise Bruchstücke von in der Schule erworbenen Geometrie-Kenntnissen, die mir immer dann in den Sinn kamen, wenn ich hektisch kurz vor Abfahrt des Zuges neben vielen anderen Fahrgästen auf den Wagenstandsanzeiger blickte. Auf diesem wird nämlich der Standpunkt mit einem senkrechten, roten Strich markiert. Mir kam diese Linie wie eine Achse vor, an der ich nun den Zug spiegeln müsse - was mir erstens im Kopf meist nicht schnell genug gelang und zweitens auch Unsinn ist. Die korrekte Spiegelachse für die umgekehrte Wagenreihung ist stets genau die Mitte des Zugs.

Wo man hin muss, kann man aber ganz einfach und ohne Geometrie herausfinden. Man zählt auf dem Wagenstandsanzeiger, wie viele Waggons vom Zugende entfernt der Waggon ist, in den man möchte. Bei umgekehrter Wagenreihung ist dieser dann einfach genauso viele Waggons vom anderen Ende des Zugs entfernt. Man zählt also auf dem Wagenstandsanzeiger von der entgegen gesetzten Seite genauso viele Waggons ab, schaut in welchem Bahnsteigabschnitt man damit landet – fertig.

Mit dieser Regel kommt man gut klar – außer es gibt zusätzlich zur geänderten Wagenreihung noch einen Gleiswechsel. Denn dann taucht der Zug nicht im entsprechenden Wagenstandsanzeiger auf und man kann diesen nicht als Hilfsmittel nutzen, um die Änderungen zu visualisieren. Hier kann jedoch die DB-App Navigator einspringen. Ruft man dort die Detail-Ansicht einer Verbindung auf, erscheinen unterhalb der Gleisangabe ein Zug-Symbol sowie die Buchstaben »A, B, C«. Wenn man da drauf klickt, öffnet sich eine Seite, auf der zu sehen ist, wie sich 1. und 2. Klasse auf die Gleisabschnitte verteilen. Wenn man hier wiederum auf die rechts unten abgebildete Lupe klickt, wird dargestellt, wo welcher Wagen zum Halten kommt. Nach meiner Erfahrung werden hier geänderte Wagenreihungen schon berücksichtigt, den Gang zum Wagenstandsanzeiger kann man sich also sparen.

Das hilft natürlich nur Menschen, die ein Smartphone nutzen, also eher nicht dem älteren Ehepaar, das seine Tickets noch am Schalter kauft. Für alle Fahrgäste wäre es besser, wenn die Wagenstandsanzeiger der Bahn so wie in Frankreich funktionierten. Dort wird die Abfolge der Waggons statt auf Papier auf Displays angezeigt, und zwar immer so, wie die Züge auch tatsächlich einfahren. Laut Bahn wird eine solche Anzeige auch an einigen deutschen Bahnhöfen getestet – hoffentlich wird diese Technik bald auf allen Bahnhöfen eingeführt.