»Auf dem falschen Gleis sein« ist eine in die Jahre gekommene Metapher. Die Deutsche Bahn tut aber alles dafür, damit die alte Redensart auch das digitale Zeitalter überdauert. Zumindest meine Züge fahren gerade nämlich ständig auf anderen Gleisen ab als angekündigt. Ich komme also am Hauptbahnhof Frankfurt zu Gleis 6, von dem mein Zug abfahren soll, und finde am Kopf die Traube der Wissenden. Das sind jene Menschen, die regelmäßig mit der Bahn fahren und schon oft erfahren mussten, wie lästig es ist, am falschen Gleis zu sein - und zwar nicht am Kopf, also dort, wo man schnell zu einem anderen Bahnsteig gelangen kann, sondern, um im Bild zu bleiben, an dessen Hüfte oder kleinem Zeh. Orten also, die mehrere hundert Meter von anderen Plattformen entfernt liegen können. Kenner wissen auch: Die Ansage »Intercity Express X, heute abweichend von Gleis Y anstatt Z« kommt nie zeitiger als fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges. Dann heißt es rennen – den gesamten Bahnsteig runter und den nächsten wieder rauf.
Dagegen hilft momentan leider nur: Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wann ein unerwarteter Gleiswechsel bevorstehen könnte. Wichtigstes Indiz dafür: Das Gleis, auf dem der Zug ankommen soll, ist noch besetzt. So ist es auch heute in Frankfurt. In sieben Minuten soll unser Zug kommen – und auf dem Gleis steht weiterhin ein ICE nach Kiel, der eigentlich vor einer Viertelstunde hätte abfahren sollen. Per App oder Anzeigetafel gibt es keine Informationen, und eine Durchsage kam auch noch nicht, aber alles riecht nach Gleiswechsel, und so stelle ich mich zu den Menschen am Kopf des Gleises, die denselben Verdacht haben wie ich – in die der Traube der Wissenden.
Die Lage für plötzliche Gleiswechsel kann noch bedeutend unkomfortabler sein als in Frankfurt, wo es in der Mitte des Bahnsteigs eine Unterführung zu den anderen Bahnsteigen gibt - man muss hier also nicht beim einen Gleis komplett bis zum Kopf und beim anderen wieder runter bis zum gewünschten Waggon rennen, sondern kann die Strecke etwas abkürzen. Schlimmer ist es in München – dort gibt es diese Möglichkeit nicht und vielleicht eskalierte die Lage an einem Sonntagabend, an dem ich da war, genau aus diesem Grund.
Neben mir gerieten zwei Männer aneinander. Kurzes Gebrüll im Getümmel, dann schlug der eine dem anderen ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht - und rannte weiter in Richtung Zug
Ich hatte ab Münchner Hauptbahnhof den letzten Zug gebucht, der zu einer vernünftigen Zeit in Frankfurt ankommen würde. Reserviert hatte ich leider, wie sich zeigte, in einem Waggon, der vom Kopf des Gleises maximal weit entfernt war. Und dummerweise hatte ich extrem viel Gepäck dabei. Rollkoffer, Rucksack, Reisetasche. Ich keuchte also eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges den gesamten Bahnsteig hoch. Drei Minuten vor Abfahrt kam die Durchsage: »ICE X fährt heute abweichend auf Gleis Y.« Der Bahnsteig war voll mit Menschen – und die begannen nun alle zu rennen. Ich mittendrin, so schnell ich eben konnte, gekrümmt unter meiner Last. Ich schielte auf die Bahnhofsuhr, sah, dass es bis zur regulären Abfahrtszeit des Zuges mittlerweile nur noch eine Minute dauerte. Am Kopf des Gleises drängelten sich die Menschen in die Kurve, jeder wollte möglichst nah am Prellbock vorbei laufen, wo der Weg am kürzesten war. Ich war zum Glück in der Innenkurve und durch mein Gepäck gegen alle Seiten gepolstert. Aber neben mir gerieten zwei Männer aneinander. Kurzes Gebrüll im Getümmel, dann schlug der eine dem anderen ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht – und rannte weiter in Richtung Zug. Der Geprügelte hielt sich den blutenden Mund, schüttelte fassungslos den Kopf, hastete aber trotzdem ebenfalls weiter den Bahnsteig hinauf. Überall sonst hätte er oder jemand anders die Polizei geholt, aber hier ging es für alle nur noch darum, den letzten Zug in Richtung Norden zu bekommen. Um nicht die halbe Nacht am Bahnhof und in späteren Zügen verbringen zu müssen, schluckt man eben auch mal ein paar Tropfen Blut.
Zum Glück hatte die Bahn dann doch noch ein Einsehen und wartete mit der Abfahrt, bis alle Gleiswechsler eingestiegen waren. Verbesserungsvorschlag: Wie wäre es, Gleiswechsel ein paar Minuten vorher anzukündigen? Vielleicht versehen mit einem beruhigenden Wort: »Der Zug fährt einige Minuten später ab, damit ihn die Gleiswechsler noch erreichen können.« Neulich in Frankfurt kam der Gleiswechsel natürlich auch, immerhin fünf Minuten vorher angekündigt, nicht nur drei. Vom Kopf des Gleises aus schaffte ich es in den Zug, ohne zu rennen. Soweit ich das mitbekommen habe, floss diesmal kein Blut.