1. Woche Tag 1 Mit neuen Wanderschuhen und altem Rucksack setze ich mich in Ostholstein in den Zug, steige in Lübeck, Hamburg, Nürnberg und Hof um, nehme in Rehau ein Taxi und in Regnitzlosau ein Fremdenzimmer. Ab morgen will ich von hier, wo ich herkomme, dorthin zurücklaufen, wo ich zu Hause bin.
Tag 2 Hinter Prex mache ich mich auf den 1393 Kilometer langen Weg, der in letzter Zeit neue Namen erhielt: Vom Lebensstreifen ist die Rede, vom Grünen Band, weil hier, wo vor zwanzig Jahren die Welt aufhörte, nun eine Art Paradiesgärtlein für anderswo Ausgestorbenes entstanden sein soll.
Tag 3 Bei Ullitz sehe ich einen alten Wachturm. Ich will ihn untersuchen und gehe vom Plattenweg ab. Ein Graffito belohnt meinen Umweg: Grenzen sind für’n Arsch! Die Tür ist verriegelt, ich breche sie nicht auf. Ich steige ins Tal hinunter und trinke zwei Gottsmannsgrüner Biere.
Tag 4 In Mödlareuth, einem Dorf, das heute nur noch in zwei Bundesländern liegt, werde ich mit einer Schulklasse durch das Grenz-museum geführt. Metallgitterzaun und Selbstschussanlagen sind so beeindruckend wie die Bärenzwinger und Folterkammern mittel-
alterlicher Ritterburgen.
Tag 5 Frau Weitermann aus Hirschberg sagt, sie seien hier schon immer nett gewesen, hätten nur früher nicht in die BRD hinüberwinken dürfen. Und mein geschwollener Knöchel würde wieder werden. Wer auf dem Kolonnenweg laufe, auf dem früher die Grenztruppen marschierten, dürfe sich nicht wundern.
Tag 6 In Blankenstein trinkt der Wirt mit mir Rhöntropfen, einen dunklen Kräuterbitter, den er schon damals, als sie noch der Osten gewesen waren, gern getrunken habe. Ich hingegen kannte von fränkischer Seite aus nur den Rhöndiesel, welcher aber immer ein klarer Obstschnaps war.
Tag 7 In Nordhalben präsentieren alte Schafkopf-Spieler anzügliche Handy-Klingeltöne und fordern mich auf, ich solle doch rübergehen und mir anschauen, wie dem Ossi alles in den Arsch gestopft werde. So weit sei es gekommen, dass man sich von einer Ostlerin regieren lassen müsse.
Weitere Impressionen vom ehemaligen Grenzgebiet.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 2. Woche, vom Schieferpark Lehesten bis Sonneberg.
2. Woche
Tag 8 Im Schieferpark Lehesten wird mir erzählt, dass im Besucherbergwerk zwar eine Million Euro stecke, es aber seit 2002 mit Wasser vollliefe und einfach absöffe, weil es im Investoren- und Betreiber-Sumpf niemanden gäbe, der für das Einschalten der Pumpen verantwortlich sei.
Tag 9 In Probstzella steht ein Haus, wie ich noch nie eines sah: ein gewaltiger Konglomeratsbau mit famosen Bauhaus-Applikationen. Das Haus des Volkes. Drei Bürger der Gemeinde wollten nicht mehr zusehen, wie es verfiel, ersteigerten es und restaurieren es mit Leidenschaft und all ihrem Vermögen.
Tag 10 Auf dem Weg nach Tettau steht direkt am Kolonnenweg ein Gedenkstein für Fritz Zapf. Er wurde hier am 7. Juli 1964 erschossen, als er über die Grenze nach Westdeutschland wollte. Zwei Grenzsoldaten erhielten für 31 »Zielschüsse« das Leistungsabzeichen der Grenztruppen. Viele Gedenksteine folgen.
Tag 11 Vor Heinersdorf steht auch ein Stück Original-Mauer. Darf ein Dorfbewohner so ein immer unansehnlicher werdendes Stück Original-Mauer eines Tages als Schandfleck bezeichnen? Wie sähe aber ein ansehnliches Stück Original-Mauer aus? Und wie in zwanzig Jahren?
Tag 12 Im Gewerbegebiet zwischen Sonneberg und Neustadt bei Coburg erklärt der Kebab-Haus-Chef, es gebe nur ein einziges Unterscheidungsmerkmal zwischen Ossis und Wessis: Die einen wollten die Dönersoße »niä scharf«, die anderen »ned scharf«. Wer sie scharf will, sei nicht zu unterscheiden.
Tag 13 An meinem ersten Ruhetag erarbeite ich mir beim Fremdenverkehrsamt der Spielzeugstadt Sonneberg ein Teddystopfer-Zeugnis. Meinem Teddy entsteht unwillkürlich ein stattlicher Wanst. Soll ja nicht gut sein für die Knöchel. Aber die danken mir den freien Tag.
Tag 14 Mein Weg ist der Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen, ein Band – eigentlich zwei Bänder – aus Betonplatten mit drei Meter Länge und einem Meter Breite. Sie haben meist eine Art Lochgitterstruktur in sieben Quer- und vier Längsreihen, weisen also jeweils 28 Löcher auf. Ich zähle viel.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 3. Woche, von Billmuthausen bis Meiningen.
3. Woche
Tag 15 Wandern im Sturm ist Tanzen mit schwerem Gerät. Das ist eine fränkische Offenbarung, hier, wo die Mazurka Baaschlenkerer heißt. Wer sich durch den Sturm schiebt, erfährt die alten Schritte neu. Und singt und jauchzt und heult gegen den Wind und bald nur noch mit ihm.
Tag 16 Wo Billmuthausen war, bevor es in den Siebzigerjahren endgültig geschleift wurde, besieht ein alter Mann die Sturmschäden und erzählt, wie sein Vater hier 1945 von den Russen erschossen wurde. Weil keine Nazis mehr da waren. Weil die Amis alle schon mitgenommen hatten auf ihrem Rückzug.
Tag 17 In Zimmerau im Grabfeldgau verrostet ein Aussichtsturm, auf den keiner mehr steigt, weil jeder dort hinkann, wo man früher gern hinsah: in die Zone. Nach ’89 kamen erst noch die Thüringer, um den Blick zu sich nachzuholen, dann ein paar Holländer auf ein paar billige Biere. Jetzt niemand mehr.
Tag 18 Reste des Metallgitterzaunes begren-zen Gärten, halten Schafe zusammen, schützen Bäume vor tierischer Knabberei oder werden kunsthandwerklich zu Kreuzen geflochten, gern in Verbindung mit Stacheldraht, dem Assoziationsgaranten von Dornenkrone bis Konzentrationslager.
Tag 19 In Behrungen ist alles eins: Mahn- und Gedenkstätte. Deutsch-deutsches Freilandmuseum. Länderübergreifendes Kulturdenkmal zur Deutschen Teilung. Mahn- und Kulturstätte Europas. Archäologisches Bodendenkmal des Freistaates Thüringen. Fledermausschutzzone. Für alles gibt es Schilder.
Tag 20 Auf der Schanz zwischen Mellrichstadt und Meiningen bestaune ich im Skulpturenpark Deutsche Einheit viel große, bunte Gedenkkunst. Alles symbolisiert etwas, wie mir auf Beipack-Schildern erklärt wird. Aber ich schäme mich bald für meine kulturpessimistische Mäkelei.
Tag 21 Wie viele Paar Socken? Wie viele Unterhosen? Wie viele Tuben Rei in der Tube? Die Standards der Stadt sind auf Wanderschaft nicht einzuhalten. So viel kannst du nicht tragen. So oft kannst du nicht waschen. So schnell wird nichts trocken. Ich mag mir nicht mehr in geschlossenen Räumen begegnen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 4. Woche, von Frankenheim bis Vacha.
4. Woche
Tag 22 Heute Ruhetag in der Rhön. Nur ein kleiner Auslauf vielleicht, ein Stündchen im Kreise, Schuhe bewegen, ohne Rucksack, mal eben nach Frankenheim. Dort will der erste innerdeutsche Barfuß-Panoramaweg städtische Fußsohlen zum Gehen ohne Schuhe animieren. Mitten auf meinem Kolonnenweg.
Tag 23 In einem Heftchen Grenzgeschichten beschreibt ein alter Bauer aus Walkes die Flucht seiner Söhne so, als sei er dabei gewesen. Und wie er später die Erklärung dafür erhielt, warum sie zuvor wenig aßen und viel Sport trieben: um durch 40er-Zementrohre in den Westen kriechen zu können.
Tag 24 In Geisa erzählt mir eine Frau, sie hätten hier den denkbar besten Karneval. Trotzdem seien in der DDR-Zeit die Büttenreden oft besser gewesen als heute, obwohl – oder gerade weil – sie zensiert waren. Denn im bloß Angedeuteten das einzelne Wort schmecken zu können, das sei so schön.
Tag 25 Die Point-Alpha-Gedenkstätte wirbt damit, der »Hottest Spot im Kalten Krieg« gewesen zu sein. Auf der Ostseite DDR-Gren-
zer im Diorama, auf der Westseite Barbecue-Grill und Basketballfeld. Hier taten verwegene Regimenter wie die Black Horses Dienst – vorher in Vietnam, nachher im Irak.
Tag 26 Die anfängliche Distanziertheit der mich in Vacha frisierenden Dame erkläre ich mir mit meinen Ausdünstungen. Tatsächlich liegt sie daran, dass der Räuber vom Bankraub heute Morgen noch flüchtig ist. Jetzt sind wir beide erleichtert, und ich hab die Haare schön, sagt sie.
Tag 27 Ein Fuchs kreuzt fünf Meter vor mir meinen Weg, aufreizend langsam, sieht mich frech an und geht weiter seinen Geschäften nach. Der scheißt auf Wanderer und schlechtes Wetter. Der geht bestimmt rüber nach Eisenach Gänse stehlen oder Bandwürmer aussetzen.
Tag 28 In Untersuhl sprudeln Mädchen aus dem Feuerwehrhaus und verfolgen mich. Sie zeigen ihre Zahnspangen her und wollen wissen, wer der Fremde sei, was er tue und warum. Sie sagen, sie feierten heute ihre Jugendweihe, und sie hofften auf eine lange Nacht.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 5. Woche, von Herleshausen bis zum Grenzdurchgangslager Friedland.
5. Woche
Tag 29 In Herleshausen hatte der Bürgermeister gegen den Druck der Nazis darauf bestanden, 1593 sowjetische Soldaten, die Zwangsarbeiter beim Bau der Reichsautobahn waren und zum Sterben hierher ins Seuchenlager gebracht wurden, wenigstens mit voller Namensnennung zu bestatten.
Tag 30 Mal wieder die Frage, ob ich denn keine Angst vor Minen hätte? Gemäß Buchführung der Aufräumkommandos würden doch von den in den DDR-Listen ausgewiesenen noch immer 3000 draußen herum-
liegen. Also gut zwei pro Kilometer. Schnauze, ich habe keine Angst.
Tag 31 Der Knöchel hat ans Knie über-
geben. In Wanfried nehme ich Zuflucht bei einer Apothekerin, danach gehe ich auf dem Hülfensberg, dem heiligen Berg des Eichs-feldes, eine Kerze stiften. Obwohl die Franziskaner hier ein kleines Kloster betreiben, finde ich nichts zu trinken.
Tag 32 In Pfaffschwende esse ich meine bes-te Soljanka, bereitet von der Jungwirtin des »Hirschen«, die sich als Kind immer eine Reise in den Westen gewünscht habe, weil dort alles aus Gold sein müsse, aber nun wisse sie ja, wie es wirklich sei, obwohl es auch im Westen schöne Seiten gebe.
Tag 33 Dieser schwachsinnige Wandererspruch: Es gebe kein schlechtes Wetter, es gebe nur falsche Kleidung. Was, bitte, wäre die
richtige Wanderkleidung bei über 30 Grad im Schatten? Ich kann nicht so viel tragen, wie ich trinken möchte, verlaufe mich und lasse Dinge liegen.
Tag 34 Bis heute wurden mehr als vier Millionen Menschen durch das Grenzdurchgangslager Friedland offiziell nach Deutschland geschleust. Zurzeit ist alles amtlich zweisprachig beschriftet: deutsch und russisch. Einsprachig in Frakturlettern: Lagerkapelle. Drinnen christliche Werbeflyer auf Russisch.
Tag 35 Prachtvoll: die Gewerbegebiete; stattlich: die Ortsumfahrungen; zierlich: die Fahrradwege, makellos die Asphaltdecken, gestochen scharf die frische Fahrbahnmarkierung, gediegen die Handwerksbetriebe, blühend die Landschaften im thüringischen Eichsfeldkreis.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 6. Woche, von Duderstadt bis zum Brocken.
6. Woche
Tag 36 Auf dem Pferdeberg bei Duderstadt feiert die Kolpingfamilie ein Jubiläum. Mädchen in AC/DC-T-Shirts beschwören wurstwendend Kirchentagsatmosphäre herauf, und im Bierzelt verzaubert Claudia
Ziegenfuß mit ihren zarten Liedern räudige Pilger.
Tag 37 Im Grenzlandmuseum Eichsfeld liegt in einer Ecke Geschreddertes vom letzten Einsatz des Stasi-Reißwolfs: wie Erbrochenes, Anverdautes, das Gewölle der finalen Aktenvernichtungsaktion. Draußen an den Straßenlaternen Plakate für die Tits & Ass Competition in einer Dorfdisco.
Tag 38 Bei der Heinz-Sielmann-Stiftung nahe Fuhrbach wird mir erklärt, weshalb gerade wegen all der DDR-Herbizide alte Samen auf kahler Brache nach 1989 neue Nahrung fanden und folglich heute die deutsche Natur nirgendwo so intakt sei wie hier, wo sie am geschundensten war.
Tag 39 Ich werde zunehmend die Gedanken los, hier eine ehemalige Grenze entlangzulaufen. Ich bin längst an diesen Weg gewöhnt, der verlegt wurde, um Mitmenschen leichter erschießen zu können, die ihr Grundrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen wollten. Wie schnell richtet man sich ein.
Tag 40 Zwischen Nordhausen und Braunlage eine alte NVA-Feldküche: Erbsensuppe, Kesselgulasch, Bockwurst. Ein Verein »Männernothilfe« leistet zur Freude der Lkw-Fahrer und des Wanderers Obdachlosen- und Suchthilfe für alte Alkoholiker; einer hat gar kasachische Großküchenerfahrung.
Tag 41 Zwischen Sorge und Elend laufe ich mich in einen Rausch. Der Harz kommt üppig wie ein flachgelegter tropischer Regenwald, eine Enzyklopädie aller vorstellbaren Grüntöne. Mein Kreuzweg ist zum Königsweg geworden. So viel Schönheit auf diesem Drecksweg – wo soll denn das noch hinführen?
Tag 42 Es ist ein großer Tag auf dem Brocken und keiner der 306 Nebeltage im Jahr. Ich schaue weit ins Deutschland hinein und erkenne mehr, als zu erblicken ist: Ich sehe, wo ich hergekommen bin; ich sehe, wo ich hingehen würde. Was könnte ich mehr wollen?
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 7. Woche, von Ilsenburg bis Oebisfelde.
7. WOCHE
Tag 43 Wehklagen in Ilsenburg: Die vielen braunen Stellen, die täten im Herzen weh! Die habe es früher nicht gegeben! Zur DDR-Zeit sei der Wald noch sauber gewesen. Zur DDR-Zeit habe man noch mehr Borkenkäferfallen aufgestellt. Zur DDR-Zeit habe es nicht so viele Sturmschäden gegeben.
Tag 44 Der Wanderer freut sich am Hasse-röder-Schild über der Wirtshaustür in Wülperode, bis er die vielen ackerbestaubten Arbeitsschuhe davor stehen sieht. Der Dorfkrug ist zwar geöffnet, aber es ist kein Dorfkrug mehr: Stattdessen sitzen Männer in der Wirtsstube auf Pritschen und rufen »nix vastee«.
Tag 45 Im Großen Bruch hängt der Himmel tief, trommelt Wolken zusammen, über Stunden, die Farben sind brillant wie sonst nur an der Küste, es geht sich gut und kühler als zuletzt, die Sicht ist klar, erschreckend klar: Alles ist weit und kommt nur langsam näher. Ich lege scheinbar nichts zurück.
Tag 46 Ausgerechnet hier! Nicht in China, nicht in Kenia, wo wir der Menschheit Wiege wissen, nein, hier hinter Hötensleben, wo die Grenze durch die braunen Kohlengruben führt, da lagen die ältesten Artefakte der Welt, und es sind Waffen, 400 000 Jahre alte Waffen: die Schöninger Speere.
Tag 47 In Helmstedt höre ich 89er-Wildwest-Geschichten: West-Freunde hätten Ost-Fremde spontan nach Hause eingeladen, bewirtet, beherbergt über Nacht. Als sie am nächsten Morgen das Frühstück bereiten wollten, seien die Ost-Gäste samt TV-Gerät durchs offene Fenster geflohen gewesen.
Tag 48 In Mariental sitze ich in der alten Klosterkirche mit sechs weiteren Schäfchen beim Gottesdienst. Bei der Ausgangskollekte drückt mir eine elegante alte Frau drei Euro in die Hand. Sie wolle auch mir etwas geben, ich sei wohl auf Wanderschaft. Ich bedanke mich und laufe ins nächste Wirtshaus.
Tag 49 Zwischen Weferlingen und Oebisfelde muss ich kleine Straßen nehmen, weil der Plattenweg weg ist. Der ehemalige Grenzverlauf ist meist am Zustand des Asphalts zu erahnen. Es gibt auch im Osten Straßen auf übelstem Westniveau, die wirklich mal eine neue Decke vertragen könnten.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 8. Woche, von Böckwitz bis Ziemendorf.
8. Woche
Tag 50 Zicherie und Böckwitz teilen sich ein Ortsschild für Anfang und Ende. An den Laternen NPD-Aufkleber. Ich trete näher: Ganz unten ist noch winzig ein Impressum zu lesen. Es waren einmal Anti-Nazi-Aufkleber. In Sonne und Regen ist alles verblasst, bis auf »NPD«, auf jeder Laterne, zweimal.
Tag 51 Muss ich um jeden Preis etwas zu Ende bringen, nur weil ich es angefangen habe? Ich könnte ein Stück trampen oder einfach mal den Bus nehmen, merkt sowieso keiner, und die Jakobswegigen machen das doch auch. Stopp! Das kommt nicht infrage, niemals! Nicht auf dem Kolonnenweg!
Tag 52 Hinter Waddekath ein Stück Mauer unter Brombeerbüschen; linkes Segment Aufschrift Nadine, rechtes Segment Aufschrift Vicke. Ein kleiner Pfad führt hinter die Büsche, zu einer schwarz-rot-goldnen Grenzsäule und einem Spanischen Reiter; kann man immer mal hin, zum Zwie-
gespräch oder so.
Tag 53 Zwischen dem Landkreis Lüchow-Dannenberg und dem Altmarkkreis Salzwedel bilden die Dörfer auf der Wanderkarte ein dadaistisches Gedicht: Harpe Warbke Nipkendey – Jiggel Gain Bonese? Ritze Binde Brietz Kakau, Proitze Kaulitz Cheine Schmarsau! Schrampe Großwitzeetze.
Tag 54 Vor Salzwedel eine leere Kaserne: eingetretene Türen, eingeschlagene Scheiben, herausgerissene Kabel, zerschmissene Waschbecken, aufgebrochene Sicherungskästen. Auf zersplitterten Möbelteilen ein Aufkleber: Wir leisten mehr. Und ins Treppenhaus gesprüht: Ich scheiß auf n Osten.
Tag 55 Arendsee war zu DDR-Zeiten ein beliebtes Ferienziel – die Seeufer konnten so schön Ostseeküste simulieren. Das Waldheim, der Stolz des FDGB mit zuletzt 400 Betten, 1928 als Erholungshaus des Stahlhelm-Bundes eröffnet, steht seit Jahren leer. Eine Traumlage! Ob ich es nicht kaufen wolle?
Tag 56 In Ziemendorf erfahre ich, das Leben im Sperrgebiet hätte auch Vorteile gehabt: Man sei nie von unangemeldetem Besuch böse überrascht worden. Und wenn man bestimmten Besuch auch angemeldet nicht haben wollte, hätte man einfach keinen Passierschein beantragt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 9. Woche, von Schnackenburg bis Lauenburg.
9. WOCHE
Tag 57 In Schnackenburg Quartier im verwaisten Deutschlandpolitischen Bildungszentrum. Ich solle morgen früh die Tür hinter mir zuziehen. Allein mit Hunderten Broschüren des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen: In der DDR haben sieben von 100 Haushalten ein Telefon, in der BRD 93 von 100.
Tag 58 In Gorleben wundere ich mich: Die Castoren stehen ja gar nicht unterir-disch im Salz, sondern da hinten in einer Halle. Und um die Halle herum stehen Zäune, Erdwälle, Stacheldraht, Verbotsschilder, Metallzaun-Systeme, Metalltor-Schleusen, Flutlicht-Peitschenmasten, Video-Überwachungsanlagen.
Tag 59 An der Elbe ein junges Paar in Fahrradferien. Er stammt aus Nordrhein-Westfalen, sie stammt aus Sachsen-Anhalt. Sie studiert in Bremen. Er studiert in Leipzig. Die junge Frau glaubt, ich komme wohl auch aus der ehemaligen DDR. Und ich höre mich antworten: »Leider nein.«
Tag 60 Was hier DDR war, soll plötzlich alter Westen sein. Für das Amt Neuhaus am rechts-elbischen Ostufer gab es 1993 einen Staatsvertrag zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern: Schwerin ließ ziehen, Hannover empfing, gut 6000 Bürger wechselten das Bundesland. Was sind die jetzt?
Tag 61 Samstagabend. Im niedersächsischen Bleckede besuche ich eine Kneipe, wo eine Band aus dem mecklenburgischen Boizenburg Death Metal spielt. Der dicke Mann, der den Eintritt kassiert, sagt: Nö. Das is nich mehr mit Ost’ n ’West. Nur ich bin der Außenseiter, der noch immer blöde Fragen stellt.
Tag 62 In Boizenburg 110 Quadratmeter Fliesenwandbild an einer Schule: Ein muskulöser Arbeiter in Latzhose mit Helm streckt den Arm empor, als hätte er gerade die Taube steigen lassen, die vor dem Fernsehturm fliegt, der hinter einem Hochhaus hervorlugt, das von chemischen Industrieanlagen flankiert wird.
Tag 63 Nun gehe ich die Bundesstraße entlang nach Lauenburg. Aber ich will nicht jammern nach fünf Tagen Elbtalauen. Und ich gehe durch Regen. Aber ich will nicht jammern nach fünf Tagen Sonne am Stück. Ich hätte mich dennoch über eine Tankstelle gefreut, mit Vordach und Kaffeeautomat.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 10. Woche, von Büchenbis Schlagsdorf.
10. Woche
Tag 64 Das Gute an Büchen ist »Ohlrogges Gasthof«. Und »Ohlrogges Gasthof« ist trocken. Außerdem ist es der Grieche von Büchen, der nur nicht Zorbas oder Dionysos heißt, sondern eben »Ohlrogges Gasthof«. Gegenüber liegt der Bahnhof, der auch mal ein großer gewesen sein muss.
Tag 65 Mit der Grenze quere ich auf einer Brücke die A 24. Unten so ein braun-weißes Hinweisschild: »Ehemalige innerdeutsche Grenze 1945–1989«. Polizisten winken Lkws raus – aus Polen, Weißrussland, Ukraine. Ich erfülle mir einen Traum: einmal als Fußgänger in einem Autobahn-Motel übernachten!
Tag 66 Für den letzten Ruhetag kaufe ich im Zarrentiner Quelle-Shop für einen Euro ein Kinderbuch aus dem Regal mit DDR-Antiquariat. Schulkinder lernen zur Freude ihrer jungen Lehrerin im Geländespiel unter Anleitung eines jungen Grenzsoldaten, wie man Grenzverletzte zur Strecke bringt.
Tag 67 Fußball-Schnack mit bolzenden Jungs: Ihr Lieblingsverein ist Sportfreunde Lüttow-Valluhn. Und Deutschland. Ihr Vorbild ist Michael Ballack. Schließlich die Frage, ob sie mir den Unterschied zwischen Ossis und Wessis erklären könnten. Nein. Wir wissen doch nicht mal, was das ist.
Tag 68 Der Horizont weitet sich tatsächlich. Es gibt eine natürliche Beschleunigung aufs Meer zu. Bitte nicht zu schnell – das will alles ausgekostet sein. Ich kürze die Tagesetappen. Und meine Knie sind meine Freunde, meine Knöchel nehmen mich leicht, mein Rücken sagt, er trage den Rucksack gern.
Tag 69 Im Schlagsdorfer Grenzmuseum meint der Mann am Einlass, man könne sich das alles anschauen, man könne darüber lesen, wirklich begreifen werde es der Westbürger nie, da helfe auch kein Museum. Seine Frau stamme ja hier aus dem Sperrgebiet. Er selbst sei auch aus dem Westen.
Tag 70 An der Wakenitz leben Nandus, südamerikanische Verwandte des Strauß. Drei Pärchen brachen aus einem Gehege aus, gründeten Familien, sind inzwischen über hundert, mischen als geschützte Natur das Naturschutzgebiet auf. Es gibt Streit, ob das Grüne Band wirklich für alle da sei.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die 11. Woche, von Lübeckbis zur Ostsee.
11. Woche
Tag 71 Lübeck ist die einzige Großstadt an der alten Grenze. Und die einzige Hafenstadt. Für die Nacht suche ich Zuflucht im Seemannsheim. Die haben sich nicht so, wenn einer aus dem Regen kommt und erst einmal eine Lache in ihr Entree setzt. Auch wenn er kein echter Seemann ist.
Tag 72 Nach gut 1500 Kilometern auf der Nahtstelle zwischen Ost und West muss ich endlich anerkennen: Ja, es gibt Unterschiede. Ja, auch manche Vorurteile wurden bestätigt. Die Unterschiede zwischen Ost und West, das wurde mir während dieser zehn Wochen klar, sind klein geworden. Die zwischen Nord und Süd sind größer.
Ende
Tag 73 Von Dassow aus laufe ich die letzten zehn Kilometer bis zur Ostsee. Das Meer geht auf. Jetzt war es das. Ich bin angekommen. Mir ist zum Heulen. Es nützt nichts. Das Wasser ist kalt. Ich danke meinem namenlosen chinesischen Schusterjungen und schleudere die Wanderstiefel in die Ostsee.
Als Peter Schanz nach seiner Wanderschaft wieder zu Hause an der Ostsee angekommen war, stand ihm noch eine große Strecke bevor: Er musste nun seine Erlebnisse aus 73 Tagen so ein-dampfen, dass sie auf sechs Druckseiten im SZ-Magazin Platz haben. Mehr Raum bietet ihm das Buch, das er geschrieben hat, es heißt Mitten durchs Land. Eine deutsche Pilgerreise und erscheint dieser Tage im Aufbau-Verlag. Schanz kommt eigentlich vom Theater: Er war Künstlerischer Direktor am Staatstheater Braunschweig und arbeitet inzwischen als freiberuflicher Autor und Dramaturg.
Fotos: Peter Schanz